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„Stell‘ Dir vor, es ist 1942 auf Instagram“

„Stell‘ Dir vor, es ist 1942 auf Instagram“

02.01.2022

Versuche, Geschichte lebendig zu machen und Vergangenes zu vergegenwärtigen, erleben derzeit einen Boom. Das Autor*innen-Team zeigt, wie das neueste Social-Media-Memory-Projekt "@ichbinsophiescholl" die NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl in die Welt der digitalen sozialen Medien holt.
 
von Daria Chepurko, Ken Phan, Kira Thiel und Hans-Ulrich Wagner
 


Dieser Beitrag ist der erste von sechs Teilen des Dossiers „Sophie Scholl auf Instagram: Eine kommunikations- und geschichtswissenschaftliche Untersuchung“. Eine Literaturliste zum gesamten Dossier finden Sie hier.

Reenactment – das Nachstellen von historischen Vorgängen – ist als filmisches Mittel in Geschichtsdokumentation mittlerweile selbstverständlich geworden. Neue spielerische, performativ-sinnliche und affektive Praktiken der Verlebendigung und Aneignung von Vergangenem – zusammengefasst unter dem Begriff „Living History“ (Tomann 2020) – erleben derzeit einen Boom. Darüber hinaus treten weitere Formen auf, die einer historischen Person mit Hilfe digitaler Medien bzw. von Social-Media-Apps neue Präsenz geben. Dabei handelt es sich um Projekte, die versuchen, die Zeitebenen von damals und heute noch einmal in besonderer Weise zu überbrücken: Etwa wenn das „Anne Frank video diary“ im März 2020 seinen Ausgangspunkt bei der Frage nimmt: „What if Anne Frank had a camera instead of a diary?“ oder wenn das Instagram-Projekt „@eva.stories“ seit 2019 von der Überlegung getragen wird: „What If a Girl In the Holocaust Had Instagram?“ (vgl. Bohus 2019; Henig & Ebbrecht-Hartmann 2020).
 
Zu diesen neuen Social-Media-Memory-Versuchen (vgl. Hoskins 2018; Burkhardt 2021) gesellte sich Ende April 2021 der deutschsprachige Instagram-Account „@ichbinsophiescholl“ der beiden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Südwestrundfunk (SWR) und Bayerischer Rundfunk (BR). Er verspricht eine „ehrliche“ und eine „intime Perspektive“ auf eine historische Person. Das Social-Media-Projekt will also zwei Dinge gleichzeitig leisten – Geschichte korrekt und zuverlässig darstellen sowie einen persönlichen Bezug zu dieser Geschichte herstellen. Dabei will es vor allem den „Alltag“, die „Erlebnisse“, die „Erfahrungen“ und die „Gedanken“ der jungen Widerstandskämpferin Sophie Scholl einfangen, die von der NS-Justiz verurteilt und am 22. Februar 1943 hingerichtet worden ist (SWR 2021).
 
Der Instagram-Account ist ein groß angelegtes Projekt. Es wird redaktionell von Susanne Gerhardt und Ulrich Herrmann beim SWR sowie von Lydia Leipert beim BR verantwortet. Im Auftrag der beiden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wird der Account von der in Ludwigsburg und Berlin ansässigen Sommerhaus Serien GmbH produziert, in Kooperation mit Vice Media und Unframed Productions. Die Regie hat der 1983 geborene Tom Lass übernommen, ein Filmemacher, der vor allem Improvisationsfilmen gedreht und so genannte Mumblecores produziert hat, also Filme, in denen improvisierte Alltagsdialoge und eine Do-it-yourself-Ästhetik dominieren.
 
Damit das Publikum die letzten zehn Monaten von Sophie Scholls Leben „emotional, radikal subjektiv und in nachempfundener Echtzeit“ erfahren kann (SWR 2021), wird ein neunmonatiger biografischer Ablauf entworfen. Die Zeitreise erstreckt sich von Mai 1942 bis zum Februar 1943. Der erste Clip des Accounts wurde am 30. April 2021 veröffentlicht, kurz bevor die historische Figur Sophie Scholl vor 79 Jahren in den Zug nach München stieg, um dort ihr Studium aufzunehmen. Am 18. Februar 2022, dem 81. Jahrestag ihrer Verhaftung im Jahr 1943, soll der letzte Clip auf dem Instagram-Kanal erscheinen.
 
Das Instagram-Projekt tritt dabei nicht als ein dokumentarisches Archiv auf, das mit biografischen Informationen über Sophie Scholl aufwartet. Vielmehr präsentiert es sich als „ein digitales, zwar umfassend und detailreich recherchiertes, aber gleichwohl fiktionales Alltags-Tagebuch" in der Welt der Social Media“. Es entwirft die fiktionale Interpretation einer historischen Figur, in dem ihre Lebenserfahrungen mit Bezug auf „historisch dokumentiert[e] Erlebnis-Kontexte“ aus heutiger, und „radikal subjektiv[er]“ Sicht erzählt werden (SWR 2021).
 
Aktuell haben 767.932 User*innen „@ichbinsophiescholl“ abonniert (5.1.2022, 00.15 Uhr). Seinen Höhepunkt erreichte der Account im Juni 2021 mit 929.000 Abonnenten, inzwischen geht diese Zahl zurück (Not Just Analytics). Seit dem Start wurden auf „@ichbinsophiescholl“ 320 Beiträge gepostet – das entspricht 1,27 Beiträgen pro Tag. Dabei zeigt das Analyse-Tool „Not Just Analytics“, dass der Interaktionsgrad relativ hoch ist, etwa wenn die letzten zwölf Posts vor dem 4. Januar 2022 im Durchschnitt jeweils 16.440 Likes und 79 Kommentare erhielten und Videos durchschnittlich 159.078 Mal aufgerufen wurden (5.1.2022).
 
Wer interessiert sich für das Projekt? – Konzipiert wurde das Projekt ursprünglich mit Blick auf die Zielgruppe junger Erwachsener im Alter zwischen 18 und 24 Jahren. Tatsächlich entfalle SWR-Redakteurin Susanne Gerhardt zufolge allerdings nur ein Fünftel der Abos auf diese Altersgruppe, die Hälfte der Abonnent*innen sei mit 25 bis 35 Jahren älter (zit. bei Jakob 2021). Zudem scheinen sich Frauen von Sophies Geschichte stärker angesprochen zu fühlen als Männer. So gibt Social-Media-Redaktionsleiterin Suli Kurban an, dass knapp drei Viertel (73%) der Nutzer*innen weiblich sind. Insgesamt sei die Community aber breit aufgestellt und umfasse “unterschiedliche Altersklassen, Bildungsgrade, Interessen, Herkunft, Geschlechter” (zit. bei Meyer 2021).
 
Dennoch deutet die Wahl von Instagram als Kommunikationskanal darauf hin, dass in erster Linie eine junge Social-Media-affine Zielgruppe adressiert wird: 58 Prozent der 12- bis 19-Jährigen (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2021) und 73% der 14- bis 29-Jährigen (Beisch & Koch 2021) nutzen die Plattform regelmäßig. Allerdings lässt sich auf der Plattform derzeit eine interessante Entwicklung beobachten: Während die Nutzungshäufigkeit unter Jugendlichen tendenziell abnimmt, finden immer mehr 30- bis 49-Jährige ihren Weg zu Instagram (von 13% in 2020 auf 26% in 2021) (Beisch & Koch 2021; Beisch & Schäfer 2020).
 
Warum wurde gerade Instagram gewählt? – Beliebt ist die Foto- und Video-Sharing-Plattform unter anderem deshalb, weil sie den Nutzenden private (wenn auch ausgewählte) Einblicke in das Leben derjenigen gewährt, die sonst unerreichbar sind, also Filmstars, Pop-Idole und Influencer*innen. In Form von Beiträgen, Stories, Reels und längeren Live-Videos nehmen sie ihre Abonnent*innen mit durch ihren Alltag und erscheinen dadurch zum Greifen nah. Diese wahrgenommene Nähe kann dazu führen, dass die Follower*innen trotz fehlender Reziprozität des Kontakts eine emotionale Bindung, eine sogenannte parasoziale Beziehung (Horton & Wohl 1956), zu ihrem virtuellen Gegenüber aufbauen. Gefördert wird diese spezielle Beziehung durch die plattformspezifischen Möglichkeiten, mit den Vorbildern in Kontakt zu treten und zu interagieren – sei es ein Like, ein Kommentar unter dem neuesten Beitrag oder eine Privatnachricht im Messenger. Dabei gilt: Je mehr Interaktion, desto stärker die Bindung (Rasmussen 2018). Je stärker die Bindung, desto größer der Effekt.

Titelbild zur Verfügung gestellt: Bayrischer Rundfunk (BR)
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