Das Bundesverfassungsgericht teilt vor seinen offiziellen Urteilsverkündungen Exklusivinformationen mit ausgewählten Journalist*innen. Darf es das? Der Medienjurist Matthias K. Klatt erklärt im Interview, wie es um die Beziehung von Justiz und Medien bestellt und wie diese geregelt ist.
Anfang Juni wurde bekannt, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe Informationen über seine Entscheidungen mit einem kleinen Kreis an Journalist*innen teilt, noch bevor die Beteiligten das Urteil kennen. Dies sei langjährige Praxis beim Höchstgericht, schrieb der Tagesspiegel. Der Rest des Justizapparates in Deutschland soll davon jedoch nichts gewusst haben.
Ausschließlich Mitglieder des Karlsruher Vereins „Justizpressekonferenz“ sollen laut Angaben am Vorabend zu Urteilsverkündungen eine Pressemitteilung zu den jeweiligen Entscheidungen erhalten. Der Verein ist, ähnlich der „Bundespressekonferenz“ in Berlin, ein privater Verein, dem Journalist*innen nur beitreten dürfen, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Mit dieser exklusiven Mitteilungspraxis will das Gericht bestimmten Medien offenbar ermöglichen, sofort nach Urteilsverkündung besonders fundiert zu berichten.
Alle oder niemand
Für den Deutschen Journalisten-Verband (DJV) ist diese Praxis „befremdlich und nicht mehr zeitgemäß“. Der Bundesvorsitzende des DJV, Frank Überall, erklärte dazu: „Es kann nicht angehen, dass das höchste Gericht der Bundesrepublik die Mitglieder eines Vereins bevorzugt mit Informationen oder Pressemitteilungen versorgt. Hier muss gelten: alle oder niemand.“Wie ist es um die Beziehung von Justiz und Medien bestellt? Wer regelt diese Beziehung? Dürfen Gerichte Informationen weitergeben, bevor die Beteiligten überhaupt ihr Urteil kennen? Der Medienjurist Matthias K. Klatt antwortet.
Die Mitteilungspraxis des Bundesverfassungsgerichts war den meisten unbekannt. Sogar im Justizministerium wusste man angeblich nichts davon. Was geht dir als Jurist durch den Kopf, wenn du von diesem Fall hörst?
Matthias K. Klatt: Zunächst gab es wohl unter gewissen Expert*innen, insbesondere Professor*innen, wohl immer eine Vermutung für eine solche Praxis. Ich muss aber sagen, dass ich als Jurist von diesem Bericht sehr überrascht und stark verwundert war. So etwas hatte ich bisher noch nicht gehört und wie es scheint, ist dies ja bei anderen hohen Gerichten, etwa dem Bundesgerichtshof, auch keine Praxis.Fatal finde ich diesen Fall insbesondere deshalb, weil er den Anschein von "Klüngel" zwischen Gericht und bestimmten Medien, insbesondere solchen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, erweckt. Das schadet allen Beteiligten. Daher finde ich es richtig, dass sich auch der Deutsche Journalisten-Verband kritisch geäußert hat.
Darf ein Gericht noch vor Urteilsverkündung, also noch bevor die Betroffenen ihr Urteil kennen, Details über die Entscheidung an Dritte weitergeben?
Matthias K. Klatt: Das bezweifle ich stark. Grundsätzlich gilt für Gerichte ja das Beratungsgeheimnis, für das Bundesverfassungsgericht ist es in § 30 Abs. 1 BVerfGG geregelt. Das heißt: die Richter*innen beraten im Kolleg, oft wochenlang, über eine Entscheidung und feilen an einem gemeinsamen Text. All dies bleibt erst einmal geheim, insbesondere vor Verkündung eines Urteils sollen darüber keine Informationen bekannt werden, um die unbeeinflusste und kollegiale Arbeit im Gericht zu sichern. Wenn der Senat seine Entscheidung dann abgefasst hat, ist diese öffentlich zu verkünden (§ 30 Abs. 1 S. 3 BVerfGG). Damit wird sichergestellt, dass der breiten Öffentlichkeit die Entscheidung bekanntgegeben wird.Diese Systematik spricht aus meiner Sicht deutlich gegen die Möglichkeit einer Vorab-Verkündung. Warum sollte es dann überhaupt einen Termin zur öffentlichen Verkündung geben? Aus meiner Sicht widerspricht diese Praxis auch dem Beratungsgeheimnis: Da es noch kein öffentlich verkündetes Urteil gibt, werden ja letztlich Informationen aus dem geheimen Beratungsprozess offenbart.
Das BVerfG hat die Urteile nur an Mitglieder des Vereins „Justizpressekonferenz“ rausgegeben. Darf er diese Gruppe derart bevorzugen?
Matthias K. Klatt: Die Justizpressekonferenz ist ein privater Verein, der sich - ähnlich wie die Bundespressekonferenz – aus Journalist*innen zusammensetzt, die in Karlsruhe ansässig sind und dort über das BVerfG und andere justizpolitische Themen berichten. Viele der Journalist*innen sind selbst Jurist*innen, es besteht also eine große Expertise. Insofern ist es wohl die Hoffnung des Bundesverfassungsgerichts, dass eine Vorabverkündung zu einer besseren, da sachkundigeren, Berichterstattung führt. Ich halte diese Praxis aber für höchst problematisch.Grundsätzlich haben natürlich alle Medien, auch diejenigen, die keine eigenen Korrespondent*innen in Karlsruhe haben, ein berechtigtes Interesse daran, möglichst gut und schnell vom Bundesverfassungsgericht über seine Entscheidungen informiert zu werden. Dass sich hier ein Verfassungsorgan gewisse Medien herauspickt, kann man nicht nur als gleichheitsrechtliches Problem, sondern letztlich auch als Eingriff in die Pressefreiheit werten. Wer als Staat - und dazu gehört das Bundesverfassungsgericht - die "vierte Gewalt" ernst nehmen möchte, muss Medien grundsätzlich gleichbehandeln.
Das geht sicherlich nicht immer, so können nicht alle Interviewanfragen positiv beschieden oder jedem Medium ein Platz im Gerichtssaal angeboten werden. Bei der Mitteilung des Entscheidungstextes, was ja nun wirklich als Grundlage jeglicher journalistischen Arbeit über das Bundesverfassungsgerichte gelten muss, sehe ich aber keinen Anlass dafür, nicht allen Medien gleichzeitig – und zwar bei der Verkündung des Urteils – den Text zukommen zu lassen.
Das kann man auch nicht etwa mit der Komplexität verfassungsgerichtlicher Entscheidungen begründen, aufgrund derer Journalist*innen mehr Zeit bräuchten, um angemessen über sie zu berichten. Ich denke das fachliche Niveau reicht aus, auch über komplexe Entscheidungen rasch gut zu berichten, denn viele Entscheidungen werden ja bereits vor ihrer Verkündung in Medien und Rechtswissenschaft stark diskutiert; es bestehen oft jahrzehntelange Rechtsprechungslinien. Ein neues Urteil bedeutet damit nicht automatisch, dass es sich um gänzlich neue, die Journalist*innen überfordernde, Rechtsfragen handelt.
Es wird viel über die Beziehung von Politik und Medien geschrieben und nachgedacht, aber vergleichsweise wenig über die Beziehung zwischen der Justiz und den Medien. Wurde das als Thema vernachlässigt?
Matthias K. Klatt: Ich glaube in der Rechtswissenschaft gibt es dazu auf jeden Fall eine Leerstelle. Der aktuelle Fall gibt aus meiner Sicht Anlass dazu, mal genauer über die Rechtsfragen von Justiz-Medienarbeit nachzudenken. Meine Kollegin, die Medienjuristin Amélie Heldt, und ich planen, uns diese Themen in nächster Zeit etwas genauer anzuschauen.Wie würdest du die Beziehung zwischen Justiz und Medien beschreiben?
Matthias K. Klatt: Ich denke, dass hier grundsätzlich eine gute Beziehung besteht. Insbesondere in den letzten Jahren hat sich einiges getan, viele Gerichte sind mittlerweile selbst auf Twitter und sie veröffentlichen parallel zur Entscheidung ausführliche – und oft gute – Pressemitteilungen, die die wesentlichen Erwägungen der Gerichte zusammenfassen. Diese sind auch oft für Nicht-Jurist*innen verständlich.Das BVerfG tritt zudem verstärkter in Medien auf. Andreas Voßkuhle, bis vor kurzem Präsident des BVerfG, war stets sehr kommunikativ und auch der neue Präsident des BVerfG, Stefan Harbarth, war schon zur Prime-Time im ZDF für ein längeres Interview zu sehen. Ich habe den Eindruck, dass die Richter*innen vermehrt spüren, dass sie ihre Entscheidungen und die Rolle des Gerichts selbst (noch) besser erklären müssen. Es reicht aus meiner Sicht schon lange nicht mehr aus, Entscheidungen und Pressemitteilungen zu veröffentlichen. Gerichte sind stark auf Akzeptanz, auch bei der Bevölkerung, angewiesen. Darum müssen sie für ihre Entscheidungen werben.„Wer die ‚vierte Gewalt‘ ernstnimmt, muss alle Medien gleichbehandeln.“
Foto: Tingey Injury Law Firm / unsplash.com