Während der Bundestag zeigt, wie effektiv (und überraschend digital) er in Krisenzeiten arbeiten kann, hat sich das ungarische Parlament selbst entmachtet. Besonders auf die Medien kommen schwierige Zeiten zu. Auf „Fake News“ zu Corona stehen bis zu fünf Jahre Haft. Jetzt wäre die EU gefragt, doch deren Rechtsstaatsmechanismus hat sich bislang als wenig effektiv erwiesen.
In Krisen zeigen Menschen ihr wahres Gesicht. Manche programmieren nächtelang Apps, um Deutschlands Gesellschaft fitter für die Überwindung von Corona zu machen. Andere horten Klopapier. Bei Staaten ist das nicht anders. Während Deutschland nötige Einschränkung rechtsstaatlich verankert, nutzte der ungarische Premierminister Viktor Orbán die Krisendynamik aus, um mit der Zweidrittelmehrheit seiner Fidesz-Partei den autoritären Kurs der letzten Jahre zu vollenden: Das Parlament gab seine Gesetzgebungs- und Kontrollbefugnisse ab und beschloss am 30. März 2020 ein Notstandsgesetz, das einen Tabubruch im demokratischen Europa darstellt.Ausnahmezustand forever?
Das Gesetz erlaubt es der Regierung, alle zur Eindämmung und Abwehr der Folgen der Covid-19-Pandemie nötigen außerordentlichen Maßnahmen (Gesetzentwurf; inoffizielle englische Übersetzung) zu ergreifen. Orbán kann „die Anwendung einzelner Gesetze suspendieren, von gesetzlichen Bestimmungen abweichen und sonstige außerordentliche Maßnahmen treffen“. Das heißt: Regierung per Dekret ohne parlamentarische Kontrolle. Auch eine direktdemokratische Kontrolle findet nicht statt. Wahlen sind für die Dauer des Notstands verboten. Besonders schlimm: Nach § 8 ist es die Regierung, die entscheidet, wann der Ausnahmezustand zu Ende ist.Fünf Jahre Haft für kritische Fragen?
Das ungarische Gesetz führt auch zwei neue Straftatbestände ein. Neben der „Behinderung der epidemiologischen Schutzmaßnahmen“ (bis zu 5 Jahre Haft) findet sich ein neuer § 337 im ungarischen Strafgesetzbuch. Diesem zufolge soll die Verbreitung von „falschen Tatsachen“ mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Wer besondere Sorgfaltspflichten hat – hier sind Medien gemeint und wohl auch Internetplattformen – kann für die Verbreitung von „Falschnachrichten“ sogar mit bis zu fünf Jahren Haft verurteilt werden (wobei noch unklar ist, wer für eine Plattform gerade zu stehen hat – die Geschäftsführung, die Chefredakteurin?).Selbst in Vor-Corona-Zeiten waren Medien in Orbáns Ungarn heftigen Attacken ausgesetzt. Dieser neue, vage formulierte Tatbestand bringt sie in noch größere Gefahr. Orbáns Regierung hat nämlich bewiesen, dass sie von US-Präsident Trump die Taktik übernommen haben, kritische Berichte als „Fake News“ zu diffamieren. Dem International Press Institute zufolge wurden in der letzten Woche vor Beschluss des neuen Gesetzes kritische Berichte über die Corona-Krisenbewältigung von ungarischen Regierungsvertreter*innen als „Fake News“ bezeichnet. Seit dem Gesetz stehen darauf bis zu fünf Jahre Haft. Eine unabhängige Justiz könnte dem Gesetz natürlich viel Wirksamkeit nehmen, indem ernsthafter Journalismus auch dann nicht als „Fake News“ gewertet wird, wenn er kritische Positionen setzt. Umso problematischer, dass Ungarns Justiz von der Regierung immer wieder attackiert wird.
Virale Notstände?
Nicht erst seit dem umstrittenen Staatstheoretiker Carl Schmitt wissen wir, dass Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Orbán hat bewiesen, dass er dergestalt souverän ist. Eine richtig verstandene Souveränität ist aber eine von Verantwortung für Bürger*innen, Gesellschaft und Staat getragene. Das ungarische Parlament hat gezeigt, dass es dieser Verantwortung nicht gerecht wird. Nun ist es an der EU und an Europas Staaten zu zeigen, dass die Verantwortung für die europäischen Werte nicht diffundiert.Wer kann Ungarn Einhalt gebieten?
In einer diplomatischen Erklärung haben am 1. April 13 EU-Staaten, darunter Deutschland, in deutlichen Worten Kritik an den Entwicklungen geübt, ohne Ungarn direkt zu erwähnen. Es sei durchaus legitim, so die Staatengruppe, dass die Mitgliedstaaten „außerordentliche Maßnahmen ergreifen, um ihre Bürger zu schützen und die Krise zu überwinden“. Dies dürfe aber nicht zur einer Verletzung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Grundrechte führen. Notfallmaßnahmen müssten auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt werden, verhältnismäßig und vorübergehend sein. Vor allem, so die von den Niederlanden koordinierte Gruppe, müssten die Maßnahmen „einer regelmäßigen Überprüfung unterliegen“ (was Ungarns Ansatz nicht vorsieht) und die Meinungs- und Pressefreiheit nicht einschränken (was Orbán gerade bezweckt).Möglichkeiten der EU
Jetzt rächt es sich, dass die EU über Jahre nicht effektiv der Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn entgegengetreten ist. Schon 2015 kritisierte das Europäische Parlament in einer Resolution den Umgang der Regierung Orbán mit Flüchtenden. Im September 2018 forderte das Parlament dann den Rat auf, gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags festzustellen, ob Ungarn Gefahr läuft, die Grundwerte der Union zu verletzen. So eine Feststellung könnte dann dazu führen, dass der Europäische Rat einstimmig (außer Ungarn) mit Zustimmung des Parlaments eine schwerwiegende und anhalte Verletzung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und der Grundrechte bestätigt. Dies wiederum könnte zu Sanktionen wie der Aussetzung des Stimmrechts im Rat führen.Minister*innen der EU-Länder haben auch im September und Dezember 2019 zwei Treffen mit ungarischen Regierungsvertreter*innen abgehalten. Diese verliefen aber wenig ergiebig. Der ungarische Staatssekretär für internationale Beziehungen, Zóltan Kovács, hielt sich etwa nicht an die Regeln des Rates und twitterte live mit. Auch ein Tweet, in dem Kovács Kommissionsmitglieder als „#SorosOrchestra“ bezeichnete (der US-Philantrop George Soros ist Orbán Lieblingsprojektionsfläche diffuser, antisemitische aufgeladener Ängste), sorgte für Missstimmung. Mitte Januar 2020 stellte das Europäische Parlament fest, dass sich die Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn erneut verschlechtert hatte.
Es geht aber nicht nur um das Verfahren. Die EU bezeichnet sich zwar gern als Wertegemeinschaft, der Soziologe Niklas Luhmann lehrt uns aber, dass man moderne Gesellschaften nicht über Werte allein steuern kann, es braucht konkrete Regeln. Das gilt auch für Gemeinschaften wie die EU. Soll dieser Rechtsstaatsmechanismus wirken, müssen klare Kriterien entwickelt werden, die den unhintergehbaren Kernbestand dessen beschreiben, was etwa Unabhängigkeit der Medien und der Justiz ausmacht. Hier könnte die EU sich vom Europarat Anregungen holen.
Politische Kreativität ist gefragt
Die EU könnte Ungarn aber auf anderem Wege gefährlich werden. Wie der München Europarechtler Walther Michl Max Steinbeis vom Verfassungsblog ausführte, sei jetzt Kreativität gefragt: die EU könnte sich auf eine Verletzung von Artikel 10 (2) (2) EU-Vertrag berufen und ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Dort wird festgehalten, dass die jeweiligen nationalen Regierungen „in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen“. In Ungarn kann nach dem Gesetzesbeschluss diese Rechenschaftspflicht nicht mehr eingefordert werden.Das riskante Spiel mit Sanktionen
Die EU-Staaten sind in einer verzwickten Situation. Gerichtsverfahren dauern lange. Aber auch Sanktionen nach dem Rechtsstaatsverfahren des Art. 7 EU-Vertrag sind zumindest zweischneidig. Wie Bernd Schlipphak und Oliver Treib in APUZ erklären, liegt ein Paradox vor: Wenn die EU tatsächlich Sanktionen ausspricht, erlaubt sie der nationalen Regierung, eine „illegitime Bedrohung von außen“ zu konstruieren und sich selbst als „einzige Garantin der nationalen Souveränität“ zu präsentieren. Die Folgen wären dramatisch: nämlich, „dass sich die Bevölkerung hinter die angegriffene Regierung stellt und ihr wachsende Unterstützung entgegenbringt.“ EU-Interventionen, so Schlipphak und Treib, „führen auf diese Weise eher zu einer Stärkung als zu einer Destabilisierung von Regierungen, die von solchen Interventionen betroffen sind.“Auf Distanz zu Ungarn?
Und eine weitere Stärkung der Regierung Orbán dürfte nicht das Ziel der EU sein. Hände weg von Ungarn also? Das entspräche zwar dem derzeit gebotenen Social Distancing, darf aber nicht zur Politik der EU werden. Europas Rechtsstaatlichkeit ist auch in und gegen Orbán und für Ungarn zu wahren. Ein kritische, freie, lebhafte, vielfältige Online- und Offlinemedienlandschaft ist zentral für die demokratische Diskurskultur. Wenn Medien aus Angst vor Haftstrafen für Journalist*innen nicht mehr frei über Corona berichten können, dann ist nicht nur Ungarns öffentliche Gesundheit, sondern die ganz Europas in Gefahr.Die Coronakrise wird noch viele Opfer fordern. Ungarns Demokratie darf nicht dazu zählen. Ein klares europäisches, solidarisches Auftreten gegen antidemokratische Maßnahmen ist nun nötig. Vor diesem Hintergrund mutet es seltsam an, dass kein einziger von Ungarns direkten EU-Nachbarstaaten die Diplomatische Erklärung der EU-13 vom 1. April 2020 unterzeichnet hat. Das ist gefährlich: denn nicht nur Covid-19 ist ansteckend, auch autoritäre Selbstermächtigung kann es sein.