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Von Stimmkünsten und Hörprozessen – Jury-Bericht zum Hörspielpreis der Kriegsblinden

Von Stimmkünsten und Hörprozessen – Jury-Bericht zum Hörspielpreis der Kriegsblinden

11.05.2022

Ob man es nun Hörspiel oder Podcast nennt: Serielles Erzählen liegt auch im Audio-Bereich im Trend. Das und andere Entwicklungen zeigen sich in der diesjährigen Auswahl für den Hörspielpreis der Kriegsblinden - Preis für Radiokunst, berichtet Jury-Mitglied Hans-Ulrich Wagner.

Der Bericht wurde am 26.04.2022 im KNA Mediendienst erstveröffentlicht. Wir danken für die Möglichkeit, ihn nach 14 Tagen Sperrfrist hier frei zugänglich ein zweites Mal zu publizieren.
 
Hören Sie Hörspiele? Sollten Sie. Es lohnt sich. Denn diese Kunstform des akustischen Mediums ist alles andere als oldfashioned. Sie präsentiert sich nicht mehr nur in den linearen Kultur-Programmen, sondern bietet sich auf Plattformen und in Mediatheken an, als wohlportionierte Podcast-Folgen ebenso wie als mehrstündiges Hörereignis. Dabei zeigt sich die akustische Kunst überaus aktuell und reagiert auf gesellschaftliche Herausforderungen, auf künstliche Intelligenz, Corona, Demenz und Pflege, Entfremdung und Identität, Rechtsradikalismus und Holocaust. In thematischer Hinsicht zeigt sich das aktuelle Hörspiel- und Radiokunst-Schaffen von zwölf öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik, in Österreich und der Schweiz breit gefächert, in seinen Ausdrucksformen ist es trotz vorherrschender Spar- und Formatierungszwänge immer noch erstaunlich gut aufgestellt. Einen Hörspiel-Preis, einen Preis für Radiokunst zu vergeben, bietet also immer auch die Chance, neue Aufmerksamkeit auf dieses Schaffen zu lenken.
 
21 Hörspielproduktionen aus dem Jahr 2021 waren von den Dramaturgien für den diesjährigen Preis eingereicht worden. In der Jurysitzung im Frühjahr 2022, zu Gast beim Rundfunk Berlin-Brandenburg, ging es um den sage und schreibe 71. Preis, der den traditionellen Namen „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ im Titel weiterführt. Der ehemalige Träger des Preises, der Bund der Kriegsblinden Deutschlands, hat diese Aufgabe inzwischen an den DBSV, den Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Verband, übergeben. Dieser entsandte sechs sehbehinderte oder blinde Jurorinnen und Juroren; der zweite Träger des Preises, die Film- und Medienstiftung NRW, lud sieben Jurorinnen und Juroren aus dem Kultur- und Medienbereich ein. Den Vorsitz führte die Berliner Kulturjournalistin Gaby Hartel.
 
Unterschiede zwischen Hörspielen und Podcasts verschwimmen
Die Einreichung des Hessischen Rundfunks ist typisch für einen Trend im deutschsprachigen Hörspielschaffen: „Hörspiele“ treten zunehmend als „Podcasts“ auf, so dass die beiden Begriffe mitunter bereits synonym verwendet werden. Man setzt auf Fortsetzung, auf serielles Erzählen und ist dabei selbstverständlich auf Hörerbindung im Programm und auf Klickzahlen im Netz aus. „Corona bedingt: Psychosoziale Symptome einer Krise“ brachte es von Januar 2021 an auf stolze 33 Folgen. Dietrich Brants, Redaktionsleiter von SWR2 Kultur Aktuell, räsoniert beim Frankfurter Nachbarsender über die durch die Pandemie ausgelöste neue Zeit-Ordnung, über die Geschichte der Gefühle und was Arbeit in der Krise bedeutet. Dabei werden seine Texte ganz podcast-gemäß einheitlich gerahmt von einem gleichlautenden Intro und abschließender Rap-Musik. Dazwischen zeigt sich Brants jedoch weniger als ein Beobachter auf der Homeoffice-Terrasse, sondern mehr als Essayist, der mit seinen äußerst verdichteten Gedanken zur Zeit den Hörenden sehr viel abverlangt.
 
Das überrascht insofern, als das langsame mehrteilige Erzählen dazu neigt, eher unterhaltsam und unterhaltend daherzukommen. Beispiel: „Preußen im Kopf“ von Tom Peuckert (Westdeutscher Rundfunk). Hier wird munter satirisch-grotesk über Preußenbilder gesprochen, werden fleißig kleine Reenactment-Szenen eingeflochten und Geschichte sehr veralltäglicht, „Preußen light“ also. Wer sich Neues über die Restitutions- und Entschädigungsansprüche des Hauses Hohenzollern erwartet hatte, wird von der vierteiligen Produktion freilich enttäuscht.
 
Ein weiterer Trend, der sich in den Spielplänen der Hörspielabteilungen abzeichnet, ist das Anknüpfen an die Erfolge, die ein Text bereits in einem anderen Medium hatte. Ein Beispiel lieferte der Bayerische Rundfunk, der „Otto“ ins Rennen schickte, die Geschichte eines alten rumänischen Ingenieurs, der jetzt als jüdischer Patriarch seine erwachsenen Töchter tyrannisiert. Dana von Suffrin erzählt diese Geschichte zwei Mal: 2019 in ihrem Debütroman, der viel Aufmerksamkeit erhielt; und 2021 in einem Hörspiel, das auf die Prosavorlage vertraut, dabei aber keine neue radiophone Leistung vorstellt, wenn Töne eher illustrativ verwendet werden, und der jiddische Einschlag als wenig realistische Klangfarbe die Brüche des Textes offenlegt.
 
Ein Preis für Autorinnen und Autoren
Was die Statuten des Preises in diesem Fall zulassen, nämlich dass Autorinnen und Autoren sich innerhalb der verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen eben auch neu und eigenständig des akustischen Mediums bedienen, schließen sie in all den Fällen aus, in denen der Text eines Autors oder einer Autorin lediglich für das Radio „bearbeitet“ wird. Das hatten das Schweizer Radio und Fernsehen sowie der Österreichische Rundfunk nicht hinreichend bedacht. Sie schickten die Erzählung „Il Ritorno in Patria“ des 2001 verstorbenen Schriftstellers W. G. Sebald ins Rennen, eine schöne Funkbearbeitung von Ralf Bücheler und Johannes Mayr, die den Sog des Sebald-Sounds noch einmal erweckte. Aber auch Clemens J. Setz' Stück „Flüstern in stehenden Zügen“ (Österreichischer Rundfunk) musste außerhalb der Konkurrenz laufen, da der frisch gebackene Büchner-Preisträger zwar das gleichnamige Theaterstück in Graz verantwortet hatte, aber an der Hörspielproduktion gar nicht beteiligt war.
 
Der Hörspielpreis der Kriegsblinden aber ist - und darauf kann er stolz sein - ein Autoren-Preis. Es gibt sie nämlich, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die für das akustische Medium schreiben. Sie heißen Christine Nagel, Paul Plamper, David Zane Mairowitz, Noam Brusilovsky, Kai Grehn und Ruth Johanna Benrath.
 
Letztere erhielt 2019 die Auszeichnung „Hörspiel des Jahres“; ihr diesjähriges Hörspiel „Blume Wolke Vogel Fisch“ (Mitteldeutscher Rundfunk) fand als Demenz- und Pflege-Stück zwar Beifall, zeigte aber auch die Grenzen einer sehr entwickelten Kunstfertigkeit auf. Die Zauberlehrlingsgeschichte über Sprachsynthese- und Sprech-Erkennungstools von Christine Nagel schaffte es unter die letzten vier Produktionen. „Siren_web_client.exe“, ein Originalhörspiel des Norddeutschen Rundfunks, überzeugt durch seine essayistische Materialbewegung, die mehrschichtig viele Aspekte um künstliche Intelligenz herum aufgreift, und besticht durch das selbstreferenzielle Thema „Stimme und Radio“.
 
Drei Stücke nominiert
Am Ende der mitunter sehr leidenschaftlich geführten Diskussionen zu den eingereichten Stücken setzten sich in den Wahlgängen drei Autoren-Teams als Nominierte für den hoffentlich bald auch finanziell dotierten Preis durch:
 
  • Noam Brusilovsky und Lucia Lucas mit „Die Arbeit an der Rolle“ (Südwestrundfunk);
  • Noam Brusilovsky und Ofer Waldman mit „Adolf Eichmann: Ein Hörprozess“ (Rundfunk Berlin-Brandenburg) sowie
  • Katarina Agathos, Julian Doepp, Katja Huber und Ulrich Lampen mit „Saal 101 - Dokumentarhörspiel zum NSU-Prozess“ (Bayerischer Rundfunk).
 
Damit geht es zwei Mal um Prozesse, hier als juristische Verfahren verstanden. In „Arbeit an der Rolle“ geht es um die Prozesse des künstlerischen Ausdrucks, der stimmlichen und sängerischen Leistung in den jeweiligen Rollen, die Lucia Lucas als erste Transgender-Frau und Heldenbaritonistin im Opernfach sich erarbeitet. Die Jury war beeindruckt von der Großzügigkeit, mit der die Suche nach Identität und das Spiel mit Opernrollen angegangen und wie wunderbar unprätentiös das Thema aufgegriffen wird. Die Entscheidung von Noam Brusilovsky, die „Don Juan“-Novelle des Romantikers E. T. A. Hoffmann damit zu verweben, macht die „Arbeit an der Rolle“ zu einem überaus hörenswerten Hör-Spiel mit der Betonung auf das Spiel und das Spielerische.
 
In einem Gerichtsprozess wird mündlich verhandelt. Aussagen stehen sich gegenüber. Justitia, mit Augenbinde, soll ohne Ansehen der Person urteilen. Fernsehaufnahmen sind nicht gestattet. Den Münchner NSU-Prozess, der sich über fünf Jahre erstreckte und der die Ortsangabe „Saal 101“ berühmt machte, protokollierten Medienvertreter für ihre tägliche journalistische Arbeit. Sie notierten, was im Gerichtssaal verhandelt wurde, was vom NSU-Komplex zutage kam, und sie reflektierten als Journalisten darüber, was ausgespart und nicht erhellt wurde. Diese Fülle an dokumentarischem Material wurde von einem vierköpfigen Autoren-Team zu 24 Folgen Hörspiel mit einer Gesamtdauer von zwölf Stunden aufgearbeitet. Ihr Montageprinzip ist dabei weniger kunstvoll als etwa das in Peter Weiß' „Ermittlung“. Die Hörspielmacher verfolgen eher eine thematische Ordnung. Diese ist vergleichsweise wenig analytisch ausgerichtet, vielmehr vertraut sie - mit vollem Recht - der Kraft des Materials. Was hier zur Sprache und im akustischen Medium zum Hören kommt, ist intensiv, so erschreckend und so beunruhigend, dass „Saal 101“ einen regelrechten Sog entwickelt.
 
Oder gewinnt „Adolf Eichmann: Ein Hörprozess“ nach dem deutschen Hörspielpreis der ARD jetzt auch den Hörspielpreis der Kriegsblinden? Wieder ist es Noam Brusilovsky, der deutsch-israelische Theater- und Hörspielmacher, der - in diesem Fall zusammen mit Ofer Waldman - mit leichter Hand ein kühnes Arrangement setzt und dabei ein Gespür für eine raffinierte radiophone Erzählung offenbart. Im „Hörprozess“ geht es vordergründig um die Radioübertragung des Eichmann-Prozesses 1961 durch den israelischen Sender Kol Israel, letztlich jedoch um das, was das spektakuläre Gerichtsverfahren mit der israelischen Gesellschaft machte und wie es diese transformierte.
 
Erst am 17. Mai 2022 wird die Entscheidung der Jury auf einer Veranstaltung in Köln verkündet und bekannt gegeben, welches der drei Teams den 71. Hörspielpreis der Kriegsblinden - Preis für Radiokunst in den Händen halten kann.

Ein Sieger jedoch steht heute schon fest: das Hörspiel; die Radiokunst; das Erzählen im akustischen Medium.

Photo by Yevgeniy Mironov on Unsplash
 
 

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