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„Zeigen, in welcher Welt wir leben“

„Zeigen, in welcher Welt wir leben“

07.12.2023

Seit zwei Monaten herrscht im Nahen Osten wieder Krieg. Grausame Bilder und Berichte über unvorstellbares menschliches Leid füllen seither unsere Medien. Wie schwierig und gleichzeitig unverzichtbar Journalismus aus dem Kriegsgebiet ist, erzählt Journalismusforscherin Anna von Garmissen im Interview.
 
Vor bald zwei Monaten griff die islamistische Terrorgruppe Hamas Israel an. Es folgte eine militärische Großoffensive Israels im Gazastreifen. Es herrscht Krieg im Nahen Osten. Wie nimmst du die Berichterstattung darüber wahr?

 Auffallend ist, dass wir in Deutschland eine sehr emotionale Debatte über Positionsbestimmungen führen. Wir haben nun einmal die Geschichte des Holocausts. Neutralität ist da sehr schwierig, viele finden sie auch unangebracht. In der Berichterstattung schwingt daher viel an Haltung mit. Das zieht sich durch die gesamte Medienlandschaft. Manche Medien sind auffallend bemüht, eine klare Seite einzunehmen, andere wiederum kommunizieren mit Nachdruck ihre Neutralität. Mein Eindruck ist, dass man sich als Medium dem auch kaum entziehen kann. Die Geschwindigkeit, mit der man verdächtigt wird, der einen oder der anderen Seite anzugehören und mit Vorwürfen konfrontiert wird, ist enorm.  

Objektivität anzustreben, ist eine journalistische Tugend. Wie schwierig ist dies im aktuellen Krieg?

Für objektive Berichterstattung müssten alle Seiten gehört und dargestellt werden. Der Gazastreifen, in dem der überwiegende Teil der Kriegsgeschehen stattfindet, ist aber faktisch abgeriegelt. Nur wenige ausgewählte Medienschaffende kommen von außen in dieses Gebiet, wenige sind schon vor Ort. Auf deren Berichte müssen sich die Nachrichtenredaktionen weltweit verlassen, beziehungsweise entsprechend sorgsam damit umgehen.  

Wie machen sie das?

Sie versuchen, Behauptungen zu verifizieren, Quellen zu überprüfen und Bilder auf ihre Authentizität hin überprüfen. Gerade in Kriegssituationen haben die beteiligten Parteien natürlich immenses Interesse daran zu kontrollieren, welche Berichte und Bilder an die Öffentlichkeit gelangen und welche nicht. Medien müssen dieses Kalkül einberechnen, Informationen mit einem gewissen Grad an Skepsis begegnen und sie mit größtmöglicher Vorsicht weitergeben.

Es gilt auch zu bedenken, dass die Möglichkeiten, Bilder und Videos zu manipulieren, immer größer werden. Durch Künstliche Intelligenz kann man heute relativ einfach gefälschte Bilder und Videos erstellen. Vor einigen Jahren brauchte man dazu noch etwas mehr Expertise. Das macht den Journalismus im Krieg noch schwieriger. Denn woher kann ich wissen, dass das, was ich in einem Video sehe, wahrhaftig so passiert ist? Wichtig ist daher umso mehr, als Redaktion klar zu benennen, was man nicht weiß oder nicht verifizieren kann. Mein Eindruck ist, dass die Nachrichtenredaktionen dies immer intensiver tun, immer wieder auf die Unsicherheit hinweisen, die Unübersichtlichkeit und oft eben auch die Unüberprüfbarkeit der Lage. Das sehe ich als positive Entwicklung.

Der technische Fortschritt zwingt uns also zum sensibleren Umgang mit Informationslagen im Krieg?

Die neuen Möglichkeiten zur Manipulation machen uns sicherlich skeptischer. Allerdings habe ich den Eindruck, dass schon länger eine zunehmende Sensibilisierung stattfindet. Das zeigte sich etwa während des Irakkriegs 2003. Damals nahm die US-Armee auf Druck von US-Medien, denen der Zugang zu Kriegsinformationen im zweiten Golfkrieg und im Afghanistankrieg zu eingeschränkt gewesen war, zahlreiche so genannte „embedded journalists“ mit ins Kriegsgebiet. Die Medienschaffenden lebten an der Seite der Soldaten in den Militärstützpunkten und sandten ihre Berichte an die Heimatredaktionen. In der Öffentlichkeit entbrannte damals eine breite Debatte darüber, wie unausgewogen eine solche Berichterstattung wohl sein würde. Denn die Journalist*innen waren ja 24 Stunden am Tag unglaublich nah an der US-amerikanischen Armee, also an einer der Kriegsparteien dran. Das Thema Objektivität bzw. Subjektivität in der Kriegberichterstattung bekam damals viel Aufmerksamkeit, sodass man heute, denke ich, schon sensibler ist.

Auch die israelische Armee lässt sich im aktuellen Konflikt von der Presse begleiten…

Ja. Die israelische Armee nimmt ausgewählte internationale Presse-Teams mit in den Gaza-Streifen und veranstaltet Touren durch die von der Hamas attackierten Kibbuzim. Es ist nicht die neutralste Weise, sich als Journalistin einen Überblick über die Lage zu verschaffen, jedoch muss man wohl sagen, es ist besser, als gar keine Informationen zu haben. Auf eigene Faust kommt man nun einmal nicht in dieses Gebiet oder nur unter größter Lebensgefahr. Das darf man nicht vergessen. Journalist*innen sind im Krieg genauso in Gefahr wie alle anderen. In den ersten vier Wochen des Krieges sind laut Comittee to Protect Journalists (CPJ) bereits 39 Medienschaffende in Gaza und Israel getötet worden. Die taz-Korrespondentin Julia Neumann schrieb vom „tödlichsten Krieg für Journalist*innen seit über 30 Jahren“. Zum Vergleich: Im ganzen Jahr 2022 dokumentierte das CPJ 68 getötete Journalist*innen – weltweit!

Wenn man im Fernsehen die Reporter sieht, wie sie mit Helmen und schusssicheren Westen ihre Aufsager machen und sich mittendrin wegen Raketenalarm Deckung suchend auf den Boden werfen, erstaunt es manchmal, dass Nachrichtenredaktionen da überhaupt reingehen.

Wahrscheinlich muss man sich hier einmal mehr des berühmten Ausspruchs von SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein bedienen: „Sagen, was ist“. Dies ist die vornehmste Pflicht des Journalismus. Es geht darum, gesicherte Informationen zu verbreiten, die Bevölkerung in Kenntnis der Sachlage setzen. Gerade in extrem unübersichtlichen dynamischen Lagen, wie wir sie in Kriegen finden, ist es wahnsinnig wichtig, so nah wie möglich dran zu sein, vor Ort. Du musst da rein, sonst kannst du nicht ordentlich berichten. Ich glaube schon, dass es für die Weltbevölkerung wichtig ist, zu wissen, was es für eine Welt ist, in der sie lebt.  

Welche Herausforderung siehst du im aktuellen Krieg in Nahost für die Nachrichtenkonsumenten?  

Wir haben heute nicht nur eine Flut von Inhalten, sondern auch eine fast unüberschaubare Masse an Absendern. Auf Social Media kann jeder senden, auch direkt aus dem Krieg – vorausgesetzt, die Internetverbindung steht. Die Zivilbevölkerung kann genauso ihre Eindrücke posten wie um Objektivität bemühte Medienschaffende oder auch die Kriegstreiber selbst. Und die wissen natürlich genau, wie sie ihre Bilder steuern und was sie damit bewirken können.  

Neulich habe ich mich mit jemandem unterhalten, der die Entwicklungen im aktuellen Krieg in Gaza fast ausschließlich über X, also das ehemalige Twitter, verfolgt, weil er der Meinung ist, Informationen - zum Beispiel über Frontverläufe - dort schneller und unmittelbarer zu bekommen. Das erfordert natürlich ein hohes Maß an Nachrichtenkompetenz. Menschen, die Kriegs- und Konfliktgeschehen auf diese Weise verfolgen, müssen sehr viel selbst bewerten und filtern. Sie fungieren quasi wie ihre eigene kleine Nachrichtenredaktion – keine leicht zu bewältigende Aufgabe, die auch misslingen kann.

Wird die Nachrichtenflut auf Social Media, die teilweise Szenen aus dem Kriegsgebiet ohne Einordnung in den Feed spült, für die Nutzenden zum Problem?  

Ja, das glaube ich schon. Viele Menschen dürften überfordert sein mit der Masse an Inhalten, die in hohem Tempo auf sie einprasseln und noch dazu stark emotional aufgeladen sind.  Besorgniserregend empfinde ich vor allem die Polarisierung und die aufgeheizte Stimmung, die wir bezüglich des Kriegs im Nahen Osten aktuell auf Social Media erleben.

Kannst du Portale empfehlen, an die man sich wenden kann, wenn man sich beim Wahrheitsgehalt einer Nachricht unsicher ist?

Da gibt es zum Beispiel correctiv.org, die tagesaktuell Faktenchecks durchführen und auf kursierende Falschmeldungen aufmerksam machen. Auch der dpa-Facktencheck ist eine gute Anlaufstelle.  

Der Krieg konfrontiert uns täglich mit Bildern von unvorstellbarer Grausamkeit. Muss ein redlicher, der Wahrheit verpflichteter Journalismus diese Bilder zeigen?

Das ist eine Frage, auf die es meiner Ansicht nach keine richtige Antwort gibt. Wenn man sich aktuell in den Medien umschaut, sieht man, dass fast alle diese Frage in irgendeiner Form öffentlich reflektieren. Es gibt da sehr widerstreitende Meinungen, und das finde ich auch gut so, weil es zeigt, dass sich viele darüber Gedanken machen. Manche sagen, man müsse Leichen zeigen, andere sagen, man dürfe keine Leichen zeigen. In einem Beitrag in Übermedien schrieb Andrej Reisin, dass die Gräueltaten der Hamas unbedingt gezeigt werden müssen, da man nur verstehen könne, was passiert ist, wenn man es einmal gesehen habe. Die Gegenmeinung sagt: Ich muss mich – und möglicherweise auch meine Kinder – nicht traumatisieren, indem ich sehe, was Menschen imstande sind, einander anzutun. Eine andere Frage, die man sicherlich stellen könnte, ist: Inwieweit ist es meine Pflicht als Bürgerin dieser Welt, mich dem Grauen auszusetzen? Ich muss gestehen, ich habe keine Antwort drauf. Obwohl dieses Thema einen natürlich immer wieder beschäftigt.

In jedem neuen Krieg wahrscheinlich…

Vor 20 Jahren hatte ich da so eine Art Schlüsselerlebnis. Ich arbeitete zu der Zeit bei einem Branchenmagazin und traf den damaligen Chefredakteur der BILD-Zeitung Kai Diekmann zum Interview. Damals herrschte Bürgerkrieg in Liberia. Zur Illustration druckte BILD das unverpixelte Foto eines liberianischen Soldaten, der den blutverschmierten, abgetrennten Kopf eines Rebellen in seinen Händen hielt. Das Foto erschien großformatig auf der Rückseite des Blattes - also an einer Stelle, die jede Person sieht, der man in der U-Bahn mit aufgeschlagener Zeitung gegenübersitzt. Im Interview meinte Kai Diekmann, es gebe Fotos, da habe man die Pflicht, sie zu drucken – weil sie geeignet seien, eine desinteressierte Welt aufzurütteln. Aber geht es nur ums Aufrütteln? Die BILD bediente mit diesem Schocker-Foto auch Leute, die sowas tatsächlich sehen wollen. Und sie machte sich auf raffinierte Weise selbst zum Thema der öffentlichen Debatte: Am nächsten Tag veröffentlichte sie das Foto ein zweites Mal – diesmal unter der Überschrift: „Ganz Deutschland diskutiert – Darf man solche Fotos drucken?“

In dieser Frage geht es doch auch um Respekt vor den Opfern.

Opferschutz ist ein ganz wichtiger Punkt. Der Pressekodex des Deutschen Presserats geht gleich in mehreren Ziffern darauf ein. Es geht darum, die Würde eines Menschen zu wahren und seine Identität zu schützten. Das ist eine Frage des Anstandes und auch des Respekts vor den Angehörigen.  

Gibt es Menschen, die grausamen Kriegsnachrichten bewusst aus dem Weg gehen?

Der Reuters Digital News Report aus dem Jahr 2023 hat gezeigt, dass jede zehnte erwachsene Person in Deutschland Nachrichten oftmals aktiv vermeidet. Zum Zeitpunkt der Befragung waren es unter anderem die Nachrichten zum Krieg in der Ukraine, die bewusst gemieden wurden. Die Leute wollen das offenbar nicht zu nah an sich ranlassen. Die Vermutung liegt also nahe, dass dies auch bei Nachrichten aus dem Nahost-Krieg der Fall sein wird.

Bewusste Nachrichtenvermeidung hat aber sicherlich auch damit zu tun, dass uns Nachrichten heute erreichen, ohne dass wir aktiv nach ihnen suchen. Sie landen als Push-Notification auf unserem Smartphone oder in unserem Social-Media-Feed. Die Menge an Inhalten, mit denen wir konfrontiert sind, hat insgesamt unglaublich zugenommen. Private Nachrichten, Updates von Social-Media-Profilen, denen man folgt, nachrichtliche Inhalte: Alles dringt zu uns über dasselbe Endgerät und vermischt sich. Die Einladung zum Geburtstagstee ploppt auf neben Berichten aus Kriegsgebieten über extremes menschliches Leid. Das kann zur Überforderung führen. Irgendwann muss man vielleicht für sich eine Grenze ziehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Johanna Sebauer.

Foto: Musa Zanoun / pexels

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