Für ein Themenheft „Die Datafizierung der Kommunikation – neue methodische Zugänge und Herausforderungen“ in unserer Zeitschrift „Medien & Kommunikationswissenschaft“ bitte wir um Einreichungen in deutscher und englischer Sprache. Gastherausgeber*innen sind Julia Niemann-Lenz, Tim Schatto-Eckrodt, Emese Domahidi und Merja Mahrt.
Die Datafizierung, also die Überführung von Aspekten des (sozialen) Lebens in Daten, prägt und strukturiert zunehmend Kommunikation. Mit der Digitalisierung massenmedialer und individueller Kommunikationsprozesse gibt es kaum noch Medieninhalte und Nutzungsvorgänge, bei denen keine Daten zur späteren Analyse gesammelt werden, und die Analyse dieser digitalen Verhaltensspuren eröffnet Zugänge zur Beantwortung alter und neuer Fragen der digitalen Kommunikation. Die Datafizierung des menschlichen Handelns verändert nicht nur den Gegenstand der Medien- und Kommunikationswissenschaft, sondern auch das Fach an sich – nicht zuletzt durch neue Datenzugänge und Methoden. Mit der Computational Communication Science hat sich ein Forschungsstrang etabliert, der digitale Datenspuren ins Zentrum medien- und kommunikationswissenschaftlicher Fragestellungen stellt (Domahidi et al. 2019).
Im Kern des Diskurses um die Datafizierung der Kommunikation bzw. der Kommunikations- und Medienwissenschaft steht eine methodologische Frage: (Wie) können die massenhaft anfallenden Daten für reliable und valide Messungen der sozialen Realität genutzt werden? Als wissenschaftliches Feld, das die Prozesse der Datafizierung seit ihren Anfängen konzeptualisiert und erforscht hat, kann unsere Disziplin dazu wichtige Beiträge leisten. Durch Innovationen und Erweiterungen des Methodenkanons, beispielsweise im Bereich von Datenspenden, KI-gestützter inhaltsanalytischer Verfahren oder anderer Methoden des maschinellen Lernens, eröffnen sich neue Möglichkeiten zur Untersuchung sozialer Phänomene. Verfahren aus dem Bereich der generativen KI bieten hier großes Potenzial, beispielsweise in der Erstellung von Stimulusmaterial für Medienwirkungsexperimente oder bei der automatisierten Codierung von Medieninhalten. Diese Methodenerweiterungen ermöglichen nicht nur tiefere Einblicke in die Dynamiken der durch Datafizierung geprägten Gesellschaft, sondern tragen auch zur Entwicklung von Modellen bei, die die Komplexität der sozialen Interaktionen besser abbilden können.
Dennoch problematisieren Kritiker*innen des Konzepts die Idee, dass menschliches Verhalten neutral und objektiv durch Daten allein abzubilden sei (boyd und Crawford, 2012). Kritisch diskutiert wird auch die Rolle der großen Online-Plattformen und ihrem „data colonialism“ (Couldry & Mejias, 2019), ein theoretisches Konzept, das die ausbeuterischen, extraktiven Praktiken des historischen Kolonialismus mit den abstrakten Quantifizierungsmethoden der Informatik verbindet. Auch der ideologische Überbau der Datafizierung wird in der Literatur kritisiert, der sogenannte „dataism“ (van Dijck, 2014), also der Glaube an eine objektiv-neutrale Quantifizierbarkeit allen menschlichen Handelns durch digitale Systeme. Außerdem ergeben sich bei der Einbeziehung neuer Daten in die Forschung oder Medienproduktion neue rechtliche und ethische Fragestellungen (Spirling, 2023).
In diesem M&K-Themenheft möchten wir aktuelle Fragen der Datafizierung speziell in den Methoden der Medien- und Kommunikationswissenschaft mit einer Reflexion darüber verbinden, wie sich unsere Disziplin durch diese Neuerungen verändert. Die Redaktion begrüßt methodologische und empirische Artikel, die beispielsweise folgende Fragestellungen in den Blick nehmen:
- Datenzugänglichkeit und -verfügbarkeit: Wie erlangen Forschende Zugang zu relevanten und aussagekräftigen Daten? Wie können Daten transparent erhoben werden? Wie können sie im Sinne von Open Science und im Einklang mit Urheber- und Persönlichkeitsrechten archiviert und nachgenutzt werden? Welche gemeinsamen Anstrengungen kann und sollte es dazu im Fach geben?
- Neue Methoden und Forschungsfelder: Welche neuen Forschungsmethoden und -ansätze eröffnen die Verfügbarkeit großer Datenmengen und die Entwicklungen auf dem Gebiet des maschinellen Lernens, z. B. Large Language Models (LLMs) für die Kommunikationswissenschaft?
- Messbarkeit der Veränderung von Kommunikationsprozessen: Wie lassen sich die Auswirkungen der Datafizierung und datenverarbeitenden Algorithmen auf die soziale Kommunikation, auf die öffentliche Meinung und soziale Interaktionen messbar machen?
- Ethik und Verantwortlichkeit: Wie, von wem und zu welchem Zweck werden Daten gesammelt, verarbeitet, angereichert, verwendet und geschützt? Welche Rolle spielen Transparenz und Kontrolle in Bezug auf den Einsatz von Algorithmen in der Kommunikation?
- Reflexion auf das Fach: Bedeutet eine Datafizierung der Kommunikation auch eine Quantifizierung des Fachs? Welche Rolle spielen qualitative Methoden und Paradigmen?
Beiträge sind in deutscher und englischer Sprache willkommen.
Kolleg*innen, die einen Beitrag zu diesem Themenheft beisteuern möchten, werden gebeten, bis zum 30. November 2024 ein Extended Abstract ihres Manuskriptangebots an die Redaktion zu senden (max. 6.000 Zeichen inkl. Leerzeichen). Auf Basis der Abstracts wird die Redaktion zusammen mit den Gastherausgeber*innen ein Konzept erstellen und die Autor*innen entsprechend einladen, bis Ende März 2025 ein Manuskript anzubieten. Über die Annahme der Manuskripte wird nach dem üblichen Begutachtungsverfahren von M&K entschieden. Das Themenheft soll im 4. Quartal 2025 erscheinen.
Adresse: Redaktion Medien & Kommunikationswissenschaft, Christiane Matzen, c.matzen@leibniz-hbi.de.
Literatur
boyd, d., & Crawford, K. (2012). Critical Questions for Big Data. Information, Communication & Society, 15(5), 662–679. https://doi.org/10.1080/1369118X.2012.678878
Couldry, N., & Mejias, U. A. (2019). The Costs of Connection: How Data Is Colonizing Human Life and Appropriating It for Capitalism. Stanford University Press.
Dijck, J. van. (2014). Datafication, Dataism and Dataveillance: Big Data between Scientific Paradigm and Ideology. Surveillance & Society, 12(2), 197–208. https://doi.org/10.24908/ss.v12i2.4776
Domahidi, E., Yang, J., Niemann-Lenz, J., & Reinecke, L. (2019). Computational Communication Science | Outlining the Way Ahead in Computational Communication Science: An Introduction to the IJoC Special Section on “Computational Methods for Communication Science: Toward a Strategic Roadmap”. International Journal of Communication, 13. https://ijoc.org/index.php/ijoc/article/view/10533
Spirling, A. (2023). Why Open-Source Generative AI Models Are an Ethical Way Forward for Science. Nature, 616(7957), 413. https://doi.org/10.1038/d41586-023-01295-4
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