Kinder, wie die Zeit vergeht! Das HBI gratuliert der Sesamstraße zum 50. Geburtstag

05.01.2023

50 Jahre Sesamstraße – eine Kindersendung feiert Geburtstag. Das HBI gratuliert aufs Herzlichste, hat es doch die Sendung gerade in ihren Anfängen intensiv und forschend begleitet. Dr. Claudia Lampert und Dr. Hans-Ulrich Wagner haben einen Blick in das Institutsarchiv geworfen.

Am 8. Januar 1973 ging die deutschsprachige Version der Sesame Street auf Sendung, ambitioniert und mit einem umfangreichen Zielkatalog, mitunter heftig kritisiert und umstritten (insbesondere wegen der Orientierung am US-amerikanischen Original und dessen starke Fokussierung auf die Förderung kognitiver Fähigkeiten), von Kindern aber immer gern gesehen. In den USA lief das Original Sesame Street schon seit 1969. Mit dem Start der Sesamstraße in Deutschland wurde das Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) (damals noch „Hans-Bredow-Institut für Rundfunk und Fernsehen an der Universität Hamburg”) vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft mit der Begleitforschung zur Sendung beauftragt (Berghaus et al. 1978).

Vom Vorschulexperiment zum erfolgreichen Kinderfernsehprogramm

Im Zentrum stand die Frage, inwieweit Fernsehsendungen in der Lage sind, vorschulpädagogische Aufgaben zu übernehmen. Wie in der Sendung, standen auch in der Forschung die sozialen Lernziele im Vordergrund, d. h. „Erziehungseffekte, welche die gesellschaftlichen Handlungsorientierungen bei Kindern betreffen” (S. 8). Neben dem Sendungsinhalt wurden familiäre Faktoren sowie das Alter und Geschlecht der Kinder berücksichtigt. Nicht nur die Sesamstraße hatte damals Pioniercharakter (Wagner 2013). Auch die Begleitforschungsgruppe betrat mit der umfangreichen „Mehrebenenanalyse“ (Berghaus et al. 1978, S. 15) Neuland, da Anfang der 1970er Jahre noch kaum Forschung zu dieser jungen Altersgruppe existierte.

Begleitforschung in den 1970er Jahren

Im Rahmen der Begleitforschung wurden am HBI insgesamt sechs aufwändige Teilstudien durchgeführt, die hier nur kurz aufgeführt werden, um die Komplexität und den Aufwand zu verdeutlichen, der damals investiert wurde, um ein gutes, empirisch fundiertes Bildungsprogramm für Kinder zu entwickeln:

  1. Sendungsanalyse (Inhaltsanalyse von 62 Sendefolgen aus 1973 und 1974);
  2. Beobachtung von 190 Kindern während der Nutzung (zu Hause bzw. im Kindergarten);
  3. Verhaltens-, Fertigkeiten- und Informationstests zur Untersuchung des Einflusses der Sendung auf die soziale Wahrnehmung, das Sozialverhalten und die Entwicklung intellektueller Fertigkeiten bei Vorschulkindern (Vergleich zwischen „Seher*innen” und „Kontrollgruppe”);
  4. Elternbefragung („Soziale Beziehungen”): Mündliche und schriftliche Befragungen von über 700 Eltern zur Erfassung der sozialen Umwelt- und Beziehungssituation;
  5. Erzieher*innenbefragung: Befragung von über 900 Vorschulpädagog*innen und Grundschullehrer*innen;
  6. Repräsentativerhebung (mündliches Interview) in 1.700 Familien mit Kindern im Alter von 3 bis 10 Jahren zum allgemeinen und sendungsbezogenen Fernsehverhalten sowie zur Beurteilung der Sendung.

Erziehung ohne Zeigefinger

Die ausführliche Darstellung der Teilerhebungen und der Befunde würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Es lohnt sich aber in jedem Fall, einen Blick in die zusammenfassende Dokumentation von Berghaus et al. (1978) zu werfen. Unter anderem wurde der Sendung eine breite Akzeptanz bei Kindern, Eltern und Pädagog*innen bescheinigt, die nicht zuletzt auch durch die öffentliche Debatte und begleitende Kommunikation (mit Feedback-Möglichkeiten) begünstigt wurde (Kob 1976, 1978). Die Sendungsstruktur, Inhalte, Darbietungsformen sowie die Regelhaftigkeit und Dichte der Ausstrahlung wurden als relevante Faktoren gesehen (damals wurde die Sendung häufiger angeboten als andere Sendungen, und für viele Kinder bedeutete 18 Uhr jahrelang „Sesamstraßen-Zeit“). Inhaltlich überzeugte Eltern und Kinder vor allem die Komik, die dazu beitrug, dass „bei aller „pädagogischer Dichte“ […] mit ihrer Hilfe die Penetranz des „pädagogischen Zeigefingers“ vermieden [wurde]“ (Kob 1976, S. 116).

Profitiert haben Kinder aus der Mittelschicht

Die Ergebnisse zu den Lernzielen fielen allerdings sehr ambivalent aus (ebd., S. 118): Eine Förderung intellektueller Fähigkeiten wurde durchaus festgestellt. Bei höheren Anforderungen erwies sich die Begleitung durch Eltern bzw. Pädagogen als bedeutsam. Das bedeutete aber auch, dass Kinder mit mehr Begleitung durch die Eltern (und eher aus der Mittelschicht) in höherem Maße von dem Angebot profitierten als Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Hintergrund. Heterogen fielen die Ergebnisse zu den sozialen Lernzielen aus: Positive Effekte zeigten sich z. B. in Bezug auf „Verständnis für das Handeln Erwachsener“ und „Autonomie gegenüber Erwachsenen“, keine Effekte beim Abbau von Geschlechterrollenfixierungen und sogar gegenteilige Effekte im Hinblick auf das Verhalten gegenüber Minderheiten.

Der damalige Direktor des HBI, Janpeter Kob, schlussfolgerte aus den Forschungsergebnissen u. a., dass soziale Lernziele nur im Einklang mit den Haltungen der Erziehungsverantwortlichen gefördert werden können und dass entsprechend auch die Eltern mit begleitenden Materialien zu informieren seien (Kob 1976, S. 120) – eine Erkenntnis, die bis heute nicht an Bedeutung verloren hat und auch mit Blick auf gegenwärtige medienbezogene Herausforderungen unbedingt beherzigt werden sollte.

Deutsche vs. US-amerikanische Sesamstraße

Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass im Kontext der Begleitforschung auch Sendungen getestet wurden, die Anfang der 1970er Jahre eigens für die deutsche Version der Sesamstraße produziert wurden. Als zentraler Befund wird berichtet, dass sich die ursprünglichen (US-amerikanischen) Straßenszenen als nicht relevant bzw. verzichtbar erwiesen und infolgedessen durch ein anderes Setting und Protagonist*innen ersetzt wurden (Weitzel 1976). Anstelle von Susanne, Bob, Gordon, Herrn Huber, dem gelben Riesenvogel Bibo und Oskar aus der Mülltonne (der ohnehin vielen Erwachsenen aufgrund seiner grantigen Art ein Dorn im Auge war) traten die Schauspielerin Liselotte Pulver und der Moderator Henning Venske sowie Knuddelbär Samson, die rosafarbene Vogeldame Tiffy und das eitle Meerschweinchen Herr von Bödefeld, die in den nachfolgenden Jahren durch weitere Puppen und Schauspieler*innen ergänzt oder auch ersetzt wurden.

Kinderfernsehen (und Forschung) im Wandel

Nicht nur die Sesamstraße hat sich in den letzten 50 Jahren (mehrfach) gewandelt und weiterentwickelt. Auch die Medienlandschaft hat sich fundamental verändert: Mit der Einführung des privaten Fernsehens Mitte der 1980er Jahre wurden die Kinder als lukrative Zielgruppe für den Werbemarkt erkannt. Als Folge entstanden zahlreiche Fernsehangebote für Kinder als Teil eines umfassenden Werbenetzes. Ende der 1990er Jahre wurden mit den Teletubbies schließlich auch Ein- bis Dreijährige in den Blick genommen, eine Altersphase, die bis dahin als offiziell als „fernsehfrei“ galt. Die Debatte um die Teletubbies erinnerte sehr an die Diskussion, die zum Zeitpunkt der Einführung der Sesamstraße in Deutschland geführt wurde (Neuss 2001). Inzwischen scheinen Fernsehangebote für Kleinkinder weitestgehend akzeptiert und sind angesichts gegenwärtiger, durch die Digitalisierung bedingten Herausforderungen, kaum mehr Gegenstand öffentlicher Debatten.

Obwohl der Kinderfernsehmarkt heute deutlich umfangreicher und vielfältiger ist, kommt der Sesamstraße als eine der wenigen Sendungen, die seit 50 Jahren Kinder begeistert, und als unterhaltsames Bildungsangebot ein besonderer Stellenwert zu. Es wird interessant sein, zu verfolgen, wie die Sesamstraße auf künftige technologische Entwicklungen reagieren wird, inwieweit es ihr gelingt, die Kinder über die verschiedenen Kommunikationskanäle zu erreichen und welche Spuren sie auch in der Mediensozialisation künftiger Generationen junger Zuschauer*innen, aber auch in der Medienerziehung von Eltern hinterlassen wird. Viele spannende Fragen für die kommunikationswissenschaftliche und medienpädagogische Forschung.

Wir gratulieren der Sesamstraße und wünschen ihr, dass die Redaktion sich ihre Leidenschaft erhält, ein gutes und unterhaltsames Fernsehprogramm für Kinder zu machen. HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!

Quellen

Berghaus, Margot; Kob, Janpeter; Marencic, Helga; Vowinckel, Gerhard (1978): Vorschule im Fernsehen. Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Vorschulserie Sesamstraße. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
Kob, Janpeter (1976). Lehren aus Sesamstraße. In: Internationale Zeitschrift für Medienpsychologie und Medienpraxis, Jg. 10, H. 1/2, S. 115-122.
Kob, Janpeter (1978): Lehren aus der ‘Sesamstraße’. In: Berghaus, Margot; Kob, Janpeter; Marencic, Helga; Vowinckel, Gerhard (1978): Vorschule im Fernsehen. Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung zur Vorschulserie Sesamstraße. Weinheim und Basel: Beltz Verlag, S. 191-199.
Neuss, Norbert (2001) (Hrsg.): Teletubbies und Co. Schadet Fernsehen unseren Kindern? Weinheim: Beltz Verlag.
Wagner, Hans-Ulrich (2013): Die „Sesamstraße“: Ein Pionier des Kinderfernsehens. Online: https://www.ndr.de/der_ndr/unternehmen/chronik/sesamstrasse2167_page-2.html [7.1.2013]
Weitzel, Jürgen (1976): Zur deutschen Bearbeitung der “Sesam”-Straßenszenen. In: Fernsehen und Bildung. Internationale Zeitschrift für Medienpsychologie und Medienpraxis, Jg. 10, H. 1/2, S. 110-114.

Foto: NDR/Sesame Workshop

Letzte Aktualisierung: 18.02.2025

Forschungsprogramm:

FP 3 Wissen für die Mediengesellschaft

Beteiligte Personen:

Newsletter

Infos über aktuelle Projekte, Veranstaltungen und Publikationen des Instituts.

Jetzt abonnieren