Hans-Ulrich Wagner hat fünf Jahre in den Archiven geforscht und legt nun in drei umfangreichen Bänden vor, was der bekannte Schriftsteller Siegfried Lenz von den 50ern bis in die 70er Jahre alles für den Rundfunk geschrieben hat, meistens für den NDR.
Siegfried Lenz ist einer der produktivsten »Medienarbeiter« in der Bundesrepublik. Lange Zeit übersteigen die Honorare für die Hörfolgen und Features, Stegreif-Erzählungen, Hörspiele und »Nachtprogramm«-Sendungen, für die Buchbesprechungen, Essays und Glossen seine Einkünfte als Romancier: Der Rundfunk ermöglicht Lenz die Existenz als freier Schriftsteller.
Aus dem Nachlass von Lenz und aus den Archiven der Rundfunkanstalten in Hamburg, Bremen, Baden-Baden, Frankfurt am Main, Stuttgart und München macht Hans-Ulrich Wagner 164 Sendungen zugänglich, die meisten davon erscheinen hier erstmals im Druck. Sie zeigen einen jungen Literaten auf der Suche nach neuen medialen Ausdrucksformen und einen aufmerksamen Journalisten, der sich mit politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fragen auseinandersetzt. Lenz entdeckt die radiophone Form des Streitgesprächs und des Dialogs für seine Arbeit und setzt diese in zahlreichen Beiträgen um. Aber auch als Erfolgsschriftsteller bekennt sich Lenz immer wieder zu seinem Medium – dem Rundfunk.
Hans-Ulrich Wagner, Senior Researcher am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut in Hamburg, berichtet im umfangreichen Kommentarteil über die im Nachlass von Siegfried Lenz im Deutschen Literaturarchiv sowie in den verschiedenen Rundfunkarchiven ermittelten Hörspiele, Hörfolgen, Features, Stegreiferzählungen, Glossen und Funkessays.
Die Recherchen und die programmgeschichtlichen Studien wurden von der Historischen Kommission der ARD und dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) unterstützt. Die dreibändige Edition ist als Band 23, 24 und 25 Teil der von der Siegfried-Lenz-Stiftung getragenen großen „Hamburger Ausgabe der Werke“ im Verlag Hoffmann und Campe.
Siegfried Lenz als „Medienarbeiter“
Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kommt Siegfried Lenz mit dem Rundfunk in Kontakt. Als Student arbeitet er 1947 in der Hörspielabteilung des Nordwestdeutschen Rundfunks in Hamburg. Erste eigene Hörfunk-Beiträge entstehen fürs Radio, noch bevor er im August 1948 ein Volontariat bei der Zonenzeitung Die Welt antritt. Aus dem britisch kontrollierten NWDR wird die erste öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt, in der deutsche Redakteure ein vielfältiges Informations-, Unterhaltungs-, Kultur- und Bildungsprogramm verantworten. Schnell gehört Siegfried Lenz zu den regelmäßigen Beiträgern und entwickelt eine erstaunliche rundfunkjournalistische und rundfunkliterarische Produktivität.
Die 1950er Jahre sind die »Blütezeit« des Kulturradios. Die Wortprogramme der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Hamburg, Bremen, Köln, Berlin, Frankfurt am Main, Saarbrücken, Baden-Baden, Stuttgart und München prägen die literarischen Entwicklungen und die intellektuellen Auseinandersetzungen in der jungen Bundesrepublik entscheidend mit. Viele Autorinnen und Autoren – nicht nur der Gruppe 47 – arbeiten für den Rundfunk und mitunter auch als Redakteure im Rundfunk. »Wir haben alle vom Rundfunk gelebt«, werden sie später rückblickend äußern. Siegfried Lenz ist einer der produktivsten Rundfunkmitarbeiter dieser Jahre: Er arbeitet zeitweise als Redakteur für die ambitionierten Versuche eines »Dritten Programms« in Hamburg; er verfasst Geschichten für den Kinderfunk, reüssiert als Hörspielautor, tritt als Erzähler von Stegreif-Geschichten auf und zeigt seine Meisterschaft in der Form der literarischen Reportage.
Die Themen seiner Rundfunkarbeiten sind breit gefächert: Lenz ist ein amüsanter Erzähler, gleichzeitig wird er in diesen Jahren zu einem gesellschaftskritischen Medienintellektuellen. Er setzt sich mit dem Verlust seiner Heimat in Ostpreußen nicht nur literarisch, sondern auch politisch auseinander. Mit Glossen und Essays nimmt er zu aktuellen Fragen Stellung. Kulturkritisch analysiert er die westdeutsche Konsumgesellschaft der Wirtschaftswunderzeit, zeichnet medienkritisch die Produktion von Trivialliteratur nach und beleuchtet in großen historischen Überblicken die Entwicklungen, die der allgemeinen »Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft« in den Nachkriegsjahren zuwiderlaufen.
Kontakt
Dr. Hans-Ulrich Wagner, Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut, h.u.wagner@leibniz-hbi.de