Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der Vielfalt unserer Online-Informationsrepertoires und politischer Polarisierung, also der Verstärkung von Meinungsunterschieden zu bestimmten Themen und Gruppen im Zeitverlauf?
Unsere aktuelle Informationsumgebung online bietet Bürger*innen eine Fülle von Nachrichten und anderen Inhalten, die für die politische Meinungsbildung relevant sind und die sich in Bezug auf journalistische Qualität und politische Extremität erheblich unterscheiden.
Politiker*innen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen mutmaßen, dass die Vielfalt und Personalisierung von Informationsquellen online zu einer Fragmentierung des Publikums und zur politischen Polarisierung beitragen: Dadurch, dass Bürger*innen zunehmend weniger Schnittmengen in ihrem Nachrichtenkonsum und ihren politischen Meinungen hätten, komme es zu einer Ausdifferenzierung.
Die Forschung über das Zusammenspiel von Medienexposition und dynamischen Polarisierungsprozessen ist jedoch spärlich und teilweise widersprüchlich. Einer der Gründe dafür ist, dass Methoden, die traditionell von Sozialwissenschaftlern zur Messung der Medienexposition eingesetzt werden, wie z. B. Selbstauskünfte in Umfragen, das Online-Verhalten nur unzureichend erfassen.
Datensammlung
Wir wählen in dem vierjährigen Kooperationsprojekt mit den Universitäten Bremen und Aalto (Finnland) sowie dem Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften GESIS deswegen einen anderen Ansatz. Unser Projekt verbindet Techniken aus der Computational Social Science mit Theorien und Methoden aus der Kommunikations- und Politikwissenschaft. Der empirische Kern ist ein 18-monatiges Web-Tracking einer repräsentativen Stichprobe von über 2000 deutschen Bürger*innen aus einem Online-Access-Panel. Die Teilnehmer*innen werden in vier Wellen zu Demografie, politischer Meinung und Mediennutzung befragt und willigen ein, dass ihre besuchten Webseiten automatisiert erfasst werden. Durch automatisiertes Crawling und Textanalyse dieser Website-Inhalte sind wir in der Lage, die Quellen-, Themen- und Akteursvielfalt der Informationen zu messen, denen die Teilnehmer ausgesetzt sind, und diese mit der Entwicklung ihrer politischen Meinungen im Laufe der Zeit in Beziehung zu setzen.
Mit diesen Längsschnittdaten untersuchen wir systematisch das Zusammenspiel zwischen Online-Informationsnutzung und politischen Meinungen, indem wir Veränderungen einzelner Individuen im Zeitverlauf untersuchen. Auf einer aggregierten Ebene beantworten wir Fragen zur Fragmentierung des Publikums und zu den absoluten und sich verändernden Ebenen der themenbezogenen und affektiven Polarisierung. Die Ergebnisse können wissenschaftliche und politische Debatten über Echokammern, gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Regulierung von Online-Umgebungen ergänzen.
Das vierjährige Projekt wurde im Rahmen des Leibniz-Wettbewerbes Kooperative Exzellenz vom HBI als Antragssteller in Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern Helena Rauxloh, Prof. Sebastian Stier und Prof. Katrin Weller (GESIS), Prof. Cornelius Puschmann (Universität Bremen) und Prof. Juhi Kulshrestha (Universität Aalto) eingeworben.
Teilnahme an POLTRACK-Studie
Teilnehmer*innen an der POLTRACK-Studie erhalten die von uns die gesetzlich vorgeschriebenen Informationen zum Datenschutz und zur gemeinsamen Verantwortlichkeit der beteiligten Forschungsinstitutionen nach Art. 26 Abs. 2 S. 2 DSGVO hier (pdf).
Weitere Informationen
Das Vorhaben wird seit 2022 durch die Leibniz Gemeinschaft im Rahmen des kompetitiven Leibniz-Wettbewerb “Kooperative Exzellenz” gefördert (Förderumfang: 988.682,17 €). In diesem Programm fördert die Leibniz-Gemeinschaft besonders innovative Vorhaben, für deren Gelingen kooperative Vernetzung innerhalb und außerhalb der Leibniz-Gemeinschaft eine Voraussetzung darstellt. So sollen neue Forschungsfelder erschlossen und die Zusammenarbeit im Sinne einer Entwicklung von Wissenschaftsstandorten und -regionen soll weiter vorangetrieben werden. Dabei liegt ein Fokus auf risikoreicher Forschung als Beitrag zur Bewältigung komplexer Herausforderungen.
Die Projektarbeit ist in fünf Arbeitspakete eingeteilt, die von verschiedenen Kooperationspartnern im Projekt verantwortet werden. Die umfassende Datensammlung (mehr als 220 Millionen Webseitenaufrufe der Studienteilnehmenden, mehr als 1 Million gecrawlte und inhaltsanalytisch untersuchte Webseiten, mehr als 2.500 Teilnehmer*innen) wurde nach zwei Jahren im ersten Halbjahr 2024 abgeschlossen.
Das Projektteam befindet sich nun in der Datenaggregierungs- und Analysephase und arbeitet aktiv an mehreren Journalpublikationen. Zum Projektende im Jahr 2025 werden die Projektergebnisse verschriftlicht und veröffentlicht sein. Die empirischen Instrumente und die innovative Methodenkombination werden umfassend dokumentiert und in Trainingsevents verbreitet. Zudem werden die Projektdaten für Sekundäranalysen im GESIS-Datenarchiv archiviert.
Gegenstand und Zielsetzung des Kooperationsprojektes
Die Vorstellung einer zunehmenden Polarisierung öffentlicher Debatten ist ein gesellschaftlich intensiv diskutiertes Thema. Dabei wird digitalen Medien – etwa Social Media-Plattformen oder Online-Nachrichtenangeboten – häufig eine bedeutende Rolle für die Meinungsbildung unterstellt. Online-Informationsumgebungen bieten Nutzenden eine Vielzahl von Informationsquellen, die sich stark in Hinblick auf journalistische Qualität und politische Ausgewogenheit unterscheiden. Politiker*innen, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen vermuten, dass die Vielfalt und Personalisierung von Informationsquellen im Internet zu einer Fragmentierung des Publikums und zur politischen Polarisierung beiträgt, also Bürger:innen weniger gemeinsame Informationsquellen teilen, und sich so der gemeinsame Nenner politischer Bezugspunkte stetig verkleinert. Zugleich ist der Forschungsstand uneinheitlich und weist Lücken auf. Die bisherige Forschung zum Zusammenspiel zwischen Medienexposition und Polarisierungsprozessen ist begrenzt und widersprüchlich, was in Teilen auf unzureichende Messmethoden wie die Selbstauskunft zur Erhebung der Online-Mediennutzung in Umfragen zurückzuführen ist.
Das Kooperationsprojekt POLTRACK des Leibniz-Instituts für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut Hamburg (HBI), der Universitäten Bremen und Aalto sowie des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften GESIS verfolgt einen neuen Ansatz, der Methoden der Computational Social Science mit Theorien der Kommunikations- und Politikwissenschaft verbindet. Wir erfassen die digitale Mediennutzung von Bürger*innen mithilfe von Web-Tracking-Tools, die Browseraktivitäten aufzeichnen. Hierdurch erhalten wir Informationen über die aufgerufenen Webseiten auf dem Computer und mobilen Endgeräten. Wir sammeln und analysieren dann die Textinhalte der besuchten Webseiten, um zu verstehen, mit welchen Themen, Akteuren, Argumenten und Emotionen die Teilnehmenden Kontakt hatten. Gleichzeitig befragen wir die Probanden regelmäßig zu ihren politischen Einstellungen zu ausgewählten Themen und Akteuren, um eine mögliche Polarisierung zu erfassen.
Unser Ziel ist es, das Zusammenspiel von digitaler Mediennutzung und politischer Polarisierung in modernen Online-Informationsumgebungen zu untersuchen. Im vorliegenden Projekt haben wir eine innovative 18-monatige Web-Tracking-Studie in Kombination mit vier Umfragewellen mit 2.500+ Bürger*innen unter Verwendung eines deutschen Marktforschungs-Panels durchgeführt. Mit den nun gesammelten Daten können wir analysieren, wie der Mangel an Vielfalt in der Informationsaufnahme mit spezifischen Polarisierungsmustern zusammenhängt.
Der longitudinale Ansatz ermöglicht es uns, die Richtung des Einflusses zwischen Informationsaufnahme und Polarisierung zu untersuchen und übertriebene öffentliche Erwartungen über starke Medieneffekte (z. B. Echokammern oder Konsumption von Desinformationen, sog. “Fake News”, etc.) zu überprüfen. So erlaubt uns unser Forschungsdesign, feine Veränderungen im Laufe der Zeit zu erkennen und eine verlässliche empirische Grundlage für Wissenschaftler*innen und politische Akteur*innen in regulatorischen Diskursen zu schaffen.
Insgesamt leistet das Projekt einen zentralen Beitrag, den allgemeinen „Gesundheitszustand“ der deutschen Online-Informationssphäre und deren Auswirkungen auf Politik und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu bewerten. Wir tragen durch unsere innovative Methodenkombination und die direkte Beobachtung von Studienteilnehmenden zur Entwicklung der wissenschaftlichen Methodik zur Erfassung des Online-Verhaltens bei – und das unter Wahrung höchster Standards in Bezug auf Forschungsethik, Datenschutz und Datenmanagement.
Unser Vorhaben ist in Deutschland in dieser Form einmalig. Auch international ist uns kein Projekt bekannt, welches mit ähnlich umfangreichen Daten in Bezug auf den Erhebungszeitraum (18 Monate), einer ähnlich großen Anzahl von Studienteilnehmenden (mehr als 2.500 Probanden) und einer automatisierten Erhebung auf Desktop und mobilen Endgeräten arbeitet. Die Größe der Erhebung ist dabei kein Selbstzweck: Wir sind überzeugt, dass drängende Fragen zur Rolle digitaler Medien für die Demokratie nur durch diesen Ansatz beantwortet werden können.
Überblick über Projektverlauf und Ergebnisse
Arbeitspaket 1: Integriertes Forschungsdesign und Datenanalyse – laufend (hauptverantwortlich: HBI Hamburg)
Zu Beginn des Projektes wurden Konzepte aus der Kommunikations- und Politikwissenschaft in ein theoretisches Modell integriert und ein internationaler Expertenworkshop durchgeführt. Es wurden Datenbanken von Websites und Social-Media-Konten relevanter Quellen und Akteure aus Medien, Politik und Gesellschaft als Grundlage für die Kategorisierung der gesammelten Webseitenaufrufe und Online-Inhalte erstellt (Puschmann et al. 2023; Schmidt 2024). Nachdem die Datensammlung abgeschlossen ist, wird im zweiten Halbjahr 2024 eine Datenanalyse der Umfragedaten (AP2), Trackingdaten (AP3) und Inhaltsanalysedaten (AP4) durchgeführt.
Arbeitspaket 2: Umfragen – abgeschlossen (hauptverantwortlich: HBI Hamburg, Universität Bremen, GESIS Köln)
Von September 2022 bis Dezember 2023 wurden vom HBI in Zusammenarbeit mit GESIS vier Onlineumfragen konzipiert, programmiert und durchgeführt, die politische Einstellungen, Demografie und Informationsquellen abdecken. Zusätzlich wurden im Sommer 2024 im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes an der Universität Bremen qualitative Interviews mit den Umfrage- und Webtrackingsteilnehmern zur Datenvalidierung durchgeführt.
Arbeitspaket 3: Digitale Verhaltensdaten – abgeschlossen (hauptverantwortlich: Universität Bremen)
Es wurde mithilfe der von der Universität Bremen bereitgestellten Serverinfrastruktur eine robuste Datenmanagement-Pipeline zur Speicherung und Analyse von inzwischen mehr als 14 Millionen Webseiten und mehr als 220 Millionen Aufrufen dieser Webseiten erstellt. Auf Basis der in Arbeitspaket 1 (AP1) erstellten Liste relevanter Quellen werden Inhalte automatisiert gecrawlt und gespeichert. Die Erhebung der Trackingdaten wurde im Dezember 2023 abgeschlossen.
Arbeitspaket 4: Inhaltsanalyse – laufend (hauptverantwortlich: Universität Bremen, Universität Aalto)
Nachdem die Sammlung der Webtracking-Daten abgeschlossen ist und die Inhalte der relevanten aufgerufenen Webseiten in einem umfangreichen Verfahren automatisiert gecrawlt wurden, werden die aktuell mehr als 1 Million Nachrichtenbeiträge und andere aufgerufene Informationsangebote manuell und automatisiert mithilfe von innovativen KI-Ansätzen auf das Vorkommen von verschiedenen Themen, Akteursgruppen, Argumenten und Emotionen hin überprüft.
Arbeitspaket 5: Projekt- und Datenmanagement – laufend (hauptverantwortlich: HBI Hamburg, GESIS Köln)
In diesem Arbeitspaket erfolgt die konstante Koordination der anderen Arbeitspakete sowie die systematische Identifikation, Analyse und Kontrolle von Risiken. Es werden Projekttreffen und Sitzungen des wissenschaftlichen Beirates organisiert. Es wurde eine interne Datenmanagementstrategie entwickelt und eine IRB-Zulassung beantragt, wobei ethische Rahmenbedingungen in Zusammenarbeit mit Rechts- und Datenschutzerexperten berücksichtigt wurden. Im zweiten Halbjahr 2024 werden Umfrageitems (AP2), Methoden zur Verarbeitung von gescrapten Online-Inhalten (AP3), Inhaltsanalyse-Kodierungsbücher (AP3) und 2025 auch aggregierte Umfrageantworten und Web-Tracking-Ergebnisse (AP1) veröffentlicht. Für 2025 sind Schulungs- und Transferveranstaltungen sowie die Archivierung der Forschungsdaten im GESIS-Datenarchiv geplant.
Gemeinsame Publikationen, Expertenworkshops und Förderungen
Ein internationaler Expertenworkshop zu Thema “Linking Surveys and Digital Trace Data: Best Practices, Tools and Challenges mit zahlreichen Wissenschaftler/innen, unter anderem aus dem wissenschaftlichen Beirat des POLTRACK-Projekts, wurde zu Projektbeginn im Mai 2022 in Hamburg ausgerichtet.
Aktuell befinden sich Projektpublikationen in Vorbereitung und wurden auf internationalen Fachkonferenzen vorgestellt oder akzeptiert:
- Rauxloh, H., Merten, L., Schulze, H., Moeller, J., & Lerch, I. (2023, July 18). The More News Sources, the Better for Democracy? Diversity of Information Exposure and Feelings of Self-Efficacy. Paper presented at the 9th International Conference on Computational Social Science, Copenhagen, Denmark.
- Puschmann, C., Rauxloh, H., Stier, S., Weller, K., & Kulshrestha, J. (2023, July 20). Uncovering Patterns in Political Search with Survey and Tracking Data. Paper presented at the 9th International Conference on Computational Social Science, Copenhagen, Denmark.
- Rauxloh, H., Merten, L., Möller, J., Schulze, H., & Lerch, I. (2024, June 23). The More News Sources, the Better for Democracy? Diversity of Information Exposure and Feelings of Self-Efficacy. Annual Conference of the International Communication Association, Gold Coast, Australia.
- Puschmann, C., Stier, S., Zerrer, P., & Rauxloh, H. (2024, June 24). Politicized and Paranoid? How Conspiracy Ideation Predicts Alternative News Consumption. Annual Conference of the International Communication Association, Gold Coast, Australia.
- Zerrer, P., Merten, L., Stier, S., Puschmann, C., & Mangold, F. (2024, September 24-27). Unveiling the Mobile Media Mosaic: Analyzing News Repertoires Combining Individual Mobile and Desktop Tracking Data. Accepted Presentation at the European Communication Conference der European Communication Research and Education Association (ECREA), Ljubljana, Slovenia.
- Merten, L., Rauxloh, H., Stier, S., Puschmann, C., Kulshrestha, J., & Weller, K. (2024, September 24-27). Political Polarization and Diversity in Online Information Exposure: A Longitudinal Tracking Study. Accepted Presentation at the European Communication Conference der European Communication Research and Education Association (ECREA), Ljubljana, Slovenia.
- Puschmann, C., Rauxloh, H., Merten, L., Stier, S., Kulshrestha, J., & Weller, K. (2024, September 24-27). Watching the Greens? Predictors and Contingencies of Partisan Political Information Seeking with Online Search Engines. Accepted Presentation at the European Communication Conference der European Communication Research and Education Association (ECREA), Ljubljana, Slovenia.