Nahostkonflikt auf Twitter muss unerforscht bleiben

Mehrere Hundert Millionen Tweets hat ein Team des HBI zum Ukraine-Krieg gesammelt und Forschenden aus aller Welt zur Verfügung gestellt. Eine solche Datensammlung ist für den Krieg im Nahen Osten nicht möglich. Denn Elon Musk hat den freien Zugang zu Plattformdaten auch für akademische Einrichtungen gekappt. Felix Victor Münch über Forschung vor verschlossenen Türen.

Im Grunde müssen wir über eine Lücke sprechen. Über solche Dinge spreche ich nicht gerne. Ich denke lieber darüber nach, was möglich ist, anstatt mich aufzuhalten mit dem Unmöglichen. Aber manchmal kommt man nicht umhin, es dennoch zu tun. Zum Beispiel, wenn ein neuer Krieg in der Welt ausbricht.

Als Terroristen der Hamas am 7. Oktober 2023 Israel überfielen, war ich durchaus erinnert an den Februar vor zwei Jahren, als russische Truppen in der Ukraine einmarschierten. Mit meinen Kollegen vom Social Media Observatory (SMO), einer Forschungsgruppe am Leibniz-Institut für Medienforschung im Rahmen des Forschungsinstituts gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ), die Infrastrukturen für Social-Media-Forschung zur Verfügung stellt, habe ich damals ziemlich rasch begonnen, Twitterdaten zu diesem Weltereignis zu sammeln.

Die sogenannte Academic API (Application Programming Interface) hatte es uns Forschenden damals noch ermöglicht, bis zu 10 Millionen Tweets pro Forscher*innen-Account pro Monat abzugreifen, und dafür alle Tweets, die seit dem Start der Plattform in 2007 gepostet wurden, zu durchsuchen. Über ein Jahr lang haben wir auf diese Weise täglich den gesamten Twitter-Diskurs (unter dem Hashtag #Ukraine auf Englisch und zum Suchbegriff Ukraine auf Ukrainisch, Russisch und Deutsch) aus dem Internet gesaugt und für zukünftige Forschung gespeichert. (Hier auf dem Blog hatten wir damals darüber berichtet.) In der dritten Woche nach Kriegsbeginn hatten wir schon über 25 Millionen Tweets in vier verschiedenen Sprachen beisammen. Insgesamt haben wir nun fast 90 Millionen Tweets gesammelt.

Im Sommer 2023 dann wurde unsere tägliche automatisierte Datenabfrage nach viel Unsicherheit und uneindeutigen Ankündigungen von Twitter mit einer Fehlermeldung beantwortet. Seitdem steht die Datensammlung still. „Elmo“ hat die Tür zugemacht.
Online-Diskurse zu großen Ereignissen
Als Wissenschaftler, der sich vorwiegend mit der Kommunikation im Digitalen beschäftigt, interessieren mich die großen Datenströme. Wie viele Menschen kommunizieren worüber mit wem? Besonders spannend ist dies, wenn ein großes Ereignis in der Welt passiert, zu welchem die Menschen entsprechend viel kommunizieren. Der Nahostkonflikt ist ein so verworrener Konflikt, zu dem es auf allen Teilen der Welt unglaublich viele Meinungen und viel Disput gibt. Wie spannend wäre es gewesen, den Twitter-Diskurs in dieser Zeit zu beobachten, bzw. Daten für allfällige Analysen zu sammeln.

Mir ist natürlich bewusst, dass das Jammern über einen fehlenden Twitterzugang angesichts der unvorstellbaren Grausamkeiten, die aktuell im Nahen Osten jeden Tag geschehen, absurd erscheint. Ich möchte da nicht missverstanden werden: Dieser Krieg ist eine Katastrophe, und ein Zugang zu Twitterdaten würde das Leid der Kriegsopfer nicht lindern und hat daher in dieser Situation absolut keine Priorität.

Die Möglichkeit, aktuell Daten abzugreifen, hätte uns aber geholfen, gesellschaftlich relevante Forschungsfragen auf Basis dieser Daten zu untersuchen. Zum Beispiel zum Thema Antisemitismus und Polarisierung des öffentlichen Diskurses. In Deutschland war nach Beginn des Krieges in Gaza immer wieder die Rede von steigendem Antisemitismus. Man hätte sich anschauen können, in welchen Community-„Regionen“ von Twitter dieser Antisemitismus auftritt. Interessant wäre auch gewesen zu prüfen, von wem die vielfach verlautbarte Hypothese, der Antisemitismus sei auch ein „importiertes Problem“, auf Twitter nach vorne gestellt wird. Ich habe den Eindruck, hier wurde von einigen bewusst versucht, das Thema Gaza-Krieg als politischen Spaltkeil zu missbrauchen.

In diesem Sinne wäre auch Desinformation ein weiteres Thema gewesen, in Konfliktzeiten immer spannend. Die Konfliktparteien (und auch innenpolitische Akteure) haben ein Interesse daran, Informationsflüsse zu kontrollieren oder auch einfach konstruktiven Diskurs zu verhindern, und streuen gezielt Desinformationen. Twitter ist diesbezüglich eine wichtige Plattform, weil sie bevorzugt von Akteuren aus der Politik sowie den Medien benutzt wird. Selbst die Hamas setzt Twitter in ihrer Propaganda ein.

DSA: Neues Gesetz, neue Hoffnung?

Dass Elon Musk mit der Datenherausgabe irgendwann würde Geld verdienen wollen, war uns allen klar. Wer heute Daten haben möchte, auch für Forschungszwecke, muss zahlen. Das Abfragen von 30.000 Tweets pro Tag kostet 5.000 Dollar pro Monat. Für unsere Forschungsvorhaben lohnt sich das nicht, zu viel Geld für eine viel zu kleine Menge an Daten. Aussagekräftige Forschung würde man damit zu solchen Großereignissen und gesamtgesellschaftlicher Kommunikation nicht betreiben können. Das liegt auch daran, dass Social Media öffentliche Kommunikation so komplex und dynamisch gemacht hat, dass klassische Stichproben in vielen Fällen nicht reichen, um sie zu verstehen.

Das EU-Gesetz über digitale Dienste (engl. Digital Services Act (DSA)), das ab dem 17. Februar 2024 in allen EU-Staaten gilt, könnte an der aktuellen Situation etwas ändern. Im Gesetzestext verankert ist die Verpflichtung der Plattformen, der Wissenschaft Zugang zu Plattformdaten ermöglichen. Das klingt erstmal vielversprechend, und Twitter nimmt deswegen seit Ende letzten Jahres auch wieder Bewerbungen für eine akademische API von EU-Forscher*innen an.

Dennoch bin ich noch etwas zögerlich in meinem Optimismus. Im Gesetzestext steht auch, in jedem EU-Mitgliedsstaat sei eine unabhängige Stelle einzurichten, bei der Forschende mit ihrem Vorhaben um einen Plattformzugang ansuchen können. Hier ist also die Frage: Wer genau entscheidet, welche Forschungsvorhaben Zugang bekommen und welche nicht? Wie behäbig wird sich eine solche einzurichtende unabhängige Stelle zeigen? Wird es ein Bürokratiemonster, das Forschung, die schnell auf ein aktuelles Ereignis, wie einen Kriegsausbruch, reagieren möchte, unmöglich macht? Das wäre ein schmerzlicher Rückschritt für die Forschung.

Protokoll von Johanna Sebauer

Bild: Jac Alexandru / unsplash

Letzte Aktualisierung: 09.07.2024

Newsletter

Infos über aktuelle Projekte, Veranstaltungen und Publikationen des Instituts.

Jetzt abonnieren