Das Paradox der Gesprächsbereiten: Warum Dialogformate oft an ihrem eigenen Anspruch scheitern

Ende 2024 machte der Verein leetHub St. Pauli e.V. dicht – mangels Geld, mangels Sichtbarkeit, mangels struktureller Unterstützung. Acht Jahre lang hatte der Verein Menschen an Hamburger Kiosken ins Gespräch gebracht, Geflüchtete und Einheimische bei Kaffee und Kuchen zusammengeführt, niedrigschwellige Begegnungen ermöglicht. Ein weiterer Dialogort weniger in einer Zeit, in der alle von mehr Dialog reden. Dieser Beitrag fragt: Was läuft schief, wenn ausgerechnet jene Initiativen verschwinden, die das gesellschaftliche Gespräch am dringendsten braucht?

„Der Wert eines Dialogs hängt vor allem von der Vielfalt konkurrierender Meinungen ab“ – dieses Zitat Karl Poppers macht deutlich, warum Dialog so unverzichtbar ist. Durch den Austausch unterschiedlicher Perspektiven entwickeln wir ein tieferes Verständnis füreinander und stärken den Zusammenhalt unserer vielfältigen Gesellschaft. Doch genau dieser Austausch gerät heute zunehmend unter Druck. Polarisierung, die Vermeidung offener Diskurse und ein wachsender Vertrauensverlust gegenüber politischen Institutionen, Medien und Menschen erschweren konstruktive Gespräche und gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Anstatt Meinungsvielfalt als Stärke zu begreifen, wird sie immer häufiger als Bedrohung empfunden.

Hier setzen Dialoginitiativen an: Sie schaffen bewusst Räume, in denen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, Erfahrungen und Werten aufeinandertreffen können. Solche Formate fördern nicht nur gegenseitiges Verständnis, sondern kultivieren auch demokratische Diskussionskultur und konstruktive Konfliktlösung. Indem sie Begegnungen zwischen unterschiedlichen Perspektiven ermöglichen, helfen Dialoginitiativen dabei, gesellschaftliche Gräben zu überbrücken.

Dialoginitiativen als Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen

Dialoginitiativen reagieren gezielt auf aktuelle gesellschaftliche Spannungen. In Formaten wie Bürgerräten, Tischgesprächen oder auch auf digitalem Weg bringen sie Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen, Wertvorstellungen und Lebensrealitäten zusammen. Ihr Ziel ist es, offene Gespräche anzuregen, ohne zwangsläufig Einvernehmen erzielen zu müssen. Dialog fungiert dabei als „Klebstoff“, der Teilhabeerfahrungen stärkt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert. Die Bandbreite reicht von groß angelegten landesweiten Projekten (wie der Initiative offene Gesellschaft) bis hin zu lokalen Initiativen in einzelnen Stadtteilen. Dabei verfolgen sie unterschiedliche Schwerpunkte, wie die folgenden Beispiele zeigen.

Cociety ist eine Initiative der Umweltstiftung Michael Otto und acht weiterer gemeinnütziger Organisationen zur Stärkung gesellschaftlicher Resilienz. Mit dem Dialogformat „CoSaturday“ schafft Cociety gezielte und methodisch fundierte Begegnungen zwischen Bürger*innen, Fachleuten und anderen Akteur*innen. Ziel ist es, Konfliktlinien offenzulegen und gemeinsam Lösungsansätze zu gesellschaftlich relevanten und kontroversen Themen zu entwickeln. Das zweijährige Projekt untersucht, wie eine vielfältige Teilnehmendenstruktur zur Förderung von Resilienz und gesellschaftlichem Zusammenhalt beiträgt.

Das Verständigungsprojekt „Gespräche von Mensch zu Mensch – weil wir hier leben“ von Mehr Demokratie e.V. förderte 2024 in Brandenburg die demokratische Gesprächs- und Diskussionskultur. Finanziert durch die Koordinierungsstelle „Tolerantes Brandenburg“, die Deutsche Postcode Lotterie und die Schöpflin Stiftung, initiierte das Projekt in Kommunen Begegnungsräume für Bürger*innen mit unterschiedlichen Meinungen und Hintergründen. Dialogformate wie „Sprechen und Zuhören“ griffen kontroverse Themen wie Klimaproteste oder den Umgang mit populistischen Bewegungen auf und machten dadurch Demokratie als gemeinsames Erlebnis spürbar.

Auch Medienhäuser übernehmen eine wichtige Rolle in der Dialogförderung. Initiativen wie „Weil Hessen mehr verbindet“ des Hessischen Rundfunks und „Deutschland spricht“ von ZEIT Online verdeutlichen, wie Medien ihre Plattformen für den offenen Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher politischer und sozialer Hintergründe nutzen. Sie erfüllen damit nicht nur ihre Informationsfunktion, sondern auch ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag zur freien Meinungsbildung und zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Das Dialogparadox als zentrales Problem

Nach Einschätzung der Initiator*innen solcher Dialogangebote wirken die Formate sowohl auf breiter gesellschaftlicher Ebene als auch im unmittelbaren Umfeld. Sie setzen wichtige Impulse, um Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen. Entscheidend dabei ist die Schaffung von Räumen, in denen Unsicherheiten zugelassen und unterschiedliche Perspektiven ohne sofortige Verurteilung diskutiert werden können. Das Ausloten möglicher „roter Linien“ in vertrauensvoller Atmosphäre ermöglicht eine tiefergehende Auseinandersetzung mit schwierigen Themen und fördert die Suche nach konstruktiven Lösungen.

Dialoginitiativen stehen aber auch vor einem grundlegenden Problem, das man als Dialogparadox bezeichnen könnte: Sie erreichen vor allem Menschen, die bereits offen für den Dialog sind. Wer Diskussionen vermeidet oder für entsprechende Formate nicht erreichbar ist, bleibt systematisch außen vor. Die zentrale Frage lautet daher: Wie lassen sich jene gewinnen, die den Dialog am meisten bräuchten?

Ein wesentlicher Grund für diese Schwierigkeiten liegt in fehlenden Anreizen. Viele Menschen erkennen schlicht nicht den Mehrwert einer Teilnahme an Dialoginitiativen. Hier reichen finanzielle Anreize allein nicht aus – der praktische Nutzen muss klar kommuniziert werden. Gleichzeitig können lokale Netzwerke und Multiplikator*innen vor Ort helfen, neue Zielgruppen zu erschließen und die Ansprache zu erleichtern.

Entscheidend bleibt jedoch die Vertrauensfrage: Nur in einem vertrauensvollen Umfeld entsteht überhaupt die Bereitschaft, sich auf Dialoge einzulassen. Dialoginitiativen müssen daher Räume schaffen, in denen Verschiedenheit wertgeschätzt wird und Menschen gleichzeitig zur Reflexion angeregt werden, ohne dabei belehrt oder vereinnahmt zu werden.

Finanzierungslücken als existenzielle Bedrohung

Dialoginitiativen leisten einen entscheidenden Beitrag zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Sie ermöglichen Menschen den Austausch über gesellschaftliche Themen und die Konfrontation mit unterschiedlichen Meinungen. Doch die oft prekäre finanzielle Lage vieler Initiativen, die auf Spenden angewiesen sind, gefährdet ihre Wirkung und langfristige Handlungsfähigkeit.

Das Schicksal des leetHub St. Pauli e.V. verdeutlicht diese Problematik beispielhaft. Seit 2015 leistete der Verein, der durch Spenden und die Unterstützung lokaler Partner*innen ermöglicht wurde, durch niedrigschwellige Formate eine wertvolle Arbeit zur Verbesserung des städtischen Zusammenlebens. Als zentrale Schnittstelle für gesellschaftliche Teilhabe brachte er Menschen mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen zusammen. Die Vereinsformate waren vielfältig und wirkungsvoll: Bei der Kioskconnection kamen Menschen an sechs Hamburger Kiosken miteinander ins Gespräch, das OpenCafé führte Geflüchtete und Hamburger Bürger*innen bei Kaffee und Kuchen zusammen.
Trotz dieser erfolgreichen Integrationsarbeit musste der Verein Ende 2024 seine Tätigkeit einstellen – aufgrund fehlender finanzieller Sicherheit, mangelnder Sichtbarkeit und weiteren strukturellen Unsicherheiten.

Notwendige Maßnahmen für eine nachhaltige Dialogkultur

Um mehr Dialogorte zu schaffen und die Arbeit solcher Dialoginitiativen zu ermöglichen, bedarf es daher ausreichender und langfristig gesicherter Ressourcen sowie politischer Unterstützung. Darüber hinaus kann eine wissenschaftliche Begleitung den Initiativen dabei helfen, ihre Angebote zu evaluieren und die Wirkungen auf gesellschaftliche Veränderungen zu prüfen.

Der Beitrag ist zuerst auf dem Blog des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) erschienen. Er beruht auf dem Workshop „Dialogformate und gesellschaftlicher Zusammenhalt“, den der Standort Hamburg mit Vertreter*innen von zivilgesellschaftlichen Dialoginitiativen durchgeführt hat. Er bot die Gelegenheit, sich zu vernetzen, Erfahrungen zu teilen und gemeinsam darüber nachzudenken, wie solche Initiativen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen.

Milena Braun (26. September 2025). Das Paradox der Gesprächsbereiten: Warum Dialogformate oft an ihrem eigenen Anspruch scheitern. Zusammenhalt begreifen. Abgerufen am 29. September 2025 von https://doi.org/10.58079/14rbv.

Letzte Aktualisierung: 30.09.2025

Projektbezug:

Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt

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